Was ich Ihnen in den nächsten Minuten vortragen möchte, ist durch und durch provisorisch, vorläufig und versuchend. Das Thema ist groß, dickichthaft und voller theoretischer Ungewissheiten. Dennoch will ich mich heranwagen und Ihnen ein Allerlei zumuten aus Problemstellungen, diversen Objekten und Begriffen. Das Unscharfe hat aber vielleicht auch seine Tugenden, denn es bietet sich an für Anknüpfungen, Schärfungen und Auffüllungen.

Worum geht es mir? Ich möchte den ganz alltäglichen Sinn des Wortes Ort zu einem Konzept aufwerten. Konzept heißt: den Ort als kritische Kategorie, als (visionäres) Vorhaben, als versteckte Realität und damit als Forschungs- und Gestaltungs-vorhaben positionieren.Um Ihnen einsichtig zu machen, warum ich diesen Begriff wähle, werde ich einen Umweg gehen, und in strukturalistischer Manier zunächst den Oppositionsbegriff herausstellen. Wenn ich als Gegenbegriff den des Raums wähle, dann mag das zunächst erstaunen, werden doch Raum und Ort oft synonym verwendet. Ich werde meine Begriffsopposition erläutern: Es ist in letzter Zeit eine wahre Flut von Tagungen, Veröffentlichungen, Kunstprojekten zu beobachten, die sich um die Frage des Raums gruppieren. Längst spricht man – nach dem linguistic, iconic und performative turn – vom spatial turn. Warum dies so ist, scheint auf der Hand zu liegen: In unserer Jetzt-Moderne ist der Raum problematisch geworden und provoziert zur Beschäftigung damit; drei Aspekte möchte ich dazu nur aufzählen:

1. Die umfassende Kulturifizierung des Raums macht aus ihm eine knapper werdende Ressource, um die wirtschaftliche, kulturelle, militärische, gesellschaftliche Interessen miteinander konkurrieren. Die Folge ist eine Disziplinierung des Raums im doppelten Sinne: als machttechnische Zurichtung und als Objekt des Wissens. Bereits ein flüchtiger Blick ins Internet zeigt, dass dieses Objekt Gegenstand einer Reihe von diversen Disziplinen ist: Architektur, Stadt-, Landschafts- und Verkehrsplanung, Militärwissenschaft, Geografie, Kunst, Soziologie, Designwissenschaft, Polizeiwesen.

2. Von einer unüberhörbaren Kulturkritik werden die neuen Medientechnologien als Vernichter des Raums beschrieben. Paradigmatisch für diese Position steht Norbert Bolz, der die neuen Kommunikationsverhältnisse als Instanz sieht, die dem Raumdenken den Boden entziehen. Er schreibt: Die „elektromagnetischen Wellen haben den Raum so erobert, dass er sich zugleich aufgelöst hat. […] Territorialität ist keine sinnvolle Sinngrenze mehr.“1

3. Die realen Geschwindigkeiten und Mobilisierungen arbeiten ebenfalls an der Vernichtung des Raums – der Bewohner wird zum Passagier: Pendler, Touristen, Flüchtlinge, Wirtschaftsreisende, Migranten überlassen sich mit Schiff, Flugzeug, PKW, Caravan, Zug, Bus einem Milieu, das Virilio als „Nicht-Ort der Geschwindigkeit“2 bezeichnet. Zwischen Aufenthalt in Fortbewegungsmaschinen und an temporären Ankunfts- sowie Abfahrtplätzen verliert der Passgier seinen Haltepunkt, seine fixe Umraumung.

Bei aller Krisendiagnose hat Raum als Kategorie einen enormen Vorteil: man hat es mit etwas Fasslichem, Definierbarem zu tun, um das sich historisch ein ganzes Diskursuniversum gebildet hat. Raum ist eine topografische Gegebenheit, zu der man eine instrumentelle Haltung beziehen kann, ja, man könnte sagen, zu der man sich methodisch verhalten kann. Diese instrumentell-methodischen Verfasstheit möchte ich im Blick behalten, denn hier zeichnet sich die Differenz zum Ort-Begriff ab. Wenn Descartes in seiner Abhandlung über die Methode das Bild vom Reisenden entwirft, der sich im Wald verirrt hat, und ihm den schnurgeraden Weg ohne Abwege empfiehlt, dann ist damit das Grundmodell des Durchmessens (oder des Ermessens) und der Orientierung beschrieben.3 Er hat den euklidischen, den quantitativen Raum im Sinn, ein Raum, der nicht verführen oder einladen darf. Er ist sozusagen ohne Ästhetik, ohne Lebendigkeit (ich komme auf diese Aspekte noch zurück), ein Raum ohne Besonderheit, einer, in der der Körper und die Kommunikation nicht stattfinden. Er wird als reine Gegebenheit gesehen, abstrakt, offen für Technologie. Lassen Sie mich an dieser Stelle zur Veranschaulichung des metrifizierten Raums eine kurze Passage aus dem Feature „Der perfekte Krieg“ (2004) einspielen. Ich habe sie aus zwei Gründen ausgewählt: An ihr wird drastisch deutlich wird, welche Implikationen dieses operative Raumwissen beinhaltet, und sie zeigt den Einsatz anvancierter Medientechnologie, die genau auf dieses Wissen aufsetzt und es hervorbringt. Was in den nächsten fünf Minuten beschrieben wird, ist die Funktionsweise der netzwerkzentrierten Kriegsführung.

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Deutlich wird, dass eine Kombination aus geografischem, technischem, designerischem und informatorischem Wissen veranschlagt wird, um den Raum als Bild, als Muster und als strategische Verhaltensgegebenheit zu konzipieren. Kennen, eindringen, wieder nach Hause fahren. Man könnte sagen, dass in dieser Strategie die Landschaft als Wüste wahrgenommen wird. Michel Serres bezeichnet als Wüste das, was keinen Widerstand zeigt, was als homogen wahrgenommen wird und methodisch erschließbar ist.4 Der Raum ist erschließbar durch und für die Rationalität. Würde ich Orte wahrnehmen, angefüllt mit Lebendigkeit, Störungen, Rauschen, Umwegen, Träumen, Sinn, ergo als etwas, das nicht mehr in Information aufgeht, wäre das Darüber-Hinwegrasen nicht mehr so einfach. Der Krieg, von dem hier die Rede ist, ist sicherlich ein Spezialfall, doch zeigt er in Reinkultur ein Modell instrumenteller Verfügung, das auch in zivilen Kontexten greift: bei programmierten Produktionsstraßen, Navigationssystemen, in Organisationen, in gerechneten Simulationen. Der Raum als Nicht-Ort kann übersetzt werden in Repräsentationen, kann zu einer Art verdinglichter Verwaltungssache gemacht werden.

Ich möchte diese Form des Wissens und des Umgangs mit Raum nicht per se diskreditieren, sie stellt zweifellos eine nicht mehr hintergehbare Realität zivilisatorischer und aufgeklärter Entwicklung dar. Mein Eingehen auf diese Modell ist dennoch kritisch, da es auf Basis einer reduktiven Logik operiert und als herrschendes Allmachtsparadigma sich aufwirft. Wie das Beispiel zeigt, verschmelzen die scheinbar oppositionären Konzepte von vernichtetem Raum qua Medialität einerseits und globalisierter Raumbeherrschung miteinander. In dieser Logik werden das Singuläre, das Sinnliche, das Nicht-Ökonomisierbare, lokale Eigensinnigkeiten, phatische Interaktivität, Atmosphäre, Vertrautheit, die schwierigen Übergänge zwischen Medium und Real-Welt kaum sichtbar. Damit deutet sich der Gegenbegriff des Ortes an. Der Begriff ist ungleich unschärfer, und er widersetzt sich dem Methodischen. Vorläufig stelle ich die These auf, dass er zu begreifen ist als das Sediment von symbolischen Ereignissen, die innerhalb der Räume stattfinden (können). Nischen des Sinns, der unwägbaren Kommunikation, der Selbsterschaffung, des Erzählens, der Einschreibungen etc. Auf der Ebene der Theorie gesprochen heißt das: Sofern Ort sich innerhalb der markierten Großtendenzen einnistet – dem schwindenden Raum einerseits sowie dem geopolitischen Raum anderseits –, kann er von den entsprechenden Raumtheorien gar nicht in den Blick kommen. Insofern ist mit einer Theorie des Ortes ein kritischer Einspruch gegenüber den dominanten Theorien der medialen, ökonomischen und politischen Moderne verbunden.

Um mich langsam einer Art Proto-Theorie des Ortes zu nähern, greife ich auf ein Beispiel aus der Literatur zurück. Ganz bewusst wähle ich ein Stück historischer Literatur, es stammt aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Ich tue dies, da mit dem Konzept des Ortes eine historische Dimension verknüpft ist, an die sich einige theroretische Probleme darstellen lassen. Gleichzeitig bietet das Beispiel den Vorteil, es emblematisch zu lesen.

Bei dem Textausschnitt handelt es sich um das vorletzte Kapitel aus Thomas Hardys Roman Tess of the D’Urbervilles. Ein Roman im übrigen, der das Durchwandern und Erleben, das Fremdwerden in Räumen und Zwischenräumen thematisiert, der die Suche nach dem Eigenen-Platz in einer sich modernisierenden Welt beschreibt. Am Ende ihrer Wanderungen hat die Hauptfigur, Tess, einen Menschen getötet, und ist mit ihrem Geliebten auf der Flucht. Sie dringen zum Schutz in ein leerstehendes Haus ein, durchkreuzen die Landschaft „without much regard to roads“, wie es im Text heißt. Symbolisch übersetzt: Sie laufen durch Gegenden, die kulturell noch nicht markiert sind, die keine Vorgaben machen. Dann erreichen Sie zur Nachtzeit eine sonderbare Architektur, in der sie ausruhen möchten. Sie ertasten in der Dunkelheit den Platz, sie spüren große Steine, die die Sonne des Tages gewärmt hat und in denen der Wind eine Musik macht, „the note of same gigantic one-string-harp“. Es handelt sich um Stonehenge.

Ein heidnischer Tempel. Hier legt sich Tess auf einen archaischen Altar, lässt sich von ihm wärmen. Sie erinnert sich ihrer Herkunft aus einer armen Schäferfamilie, der herzlosen Behandlung durch die christliche Gesellschaft und stellt fest: „I was a heathen. So now I am at home.“5 Man könnte auch sagen, dass sie schließlich einen Ort gefunden hat.

Der Text von Hardy bietet Gelegenheit, auf eine Konzeption des Ortes einzugehen, die der französische Ethnologe Marc Augé in einem überlegenswürdigen Buch entwickelt hat. Das Buch trägt den programmatischen Titel Orte und Nicht-Orte. Darin prägt Augé den Begriff des anthropologischen Ortes. Als Ethnologe bezieht Augé sich auf traditionale Gesellschaften, die in einem festen System aus symbolischen Räumlichkeiten, Ritualen, eingefassten Handlungen, religiösen Grenzziehungen leben. Nach Augé wird die Metrik des Raumes als Grund, Rahmung und Bühne gelebter Sinnprinzipien genutzt. Man könnte diese vormoderne Gegebenheit in dem Roman wiedererkennen: Ein mit Ursinn aufgeladener Raum wird zur Heimat eines Menschen, er findet dort seine Identität, er spürt Schutz und emotionales Containment. In diesem Sinne böte der Roman ein rückwärts gewandtes Idyll an, das als eine Art romantischer Protest gegen die Moderne installiert wird. Diese kulturkritische Haltung findet sich in der Tat bei Augé, der in der Moderne der Gegenwart – er bezeichnet sie als Übermoderne – einen Prozess am Werk sieht, der Orte vernichtet. Er schreibt: „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.“6

Als Nicht-Orte nennt Augé Transiträume, Flughäfen, Bahnhöfe, Autobahnen, Hotelketten und Durchgangswohnheime, Feriendörfer, Flüchtlingslager, Slums aber auch die beweglichen Behausungen der Verkehrsmittel. Nun deutet ich das Textbeispiel aber gerade als Bearbeitung des modernen Imperativs des Transitorischen. Denn wir lesen über zwei Figuren, die Flucht und Versetzung aus ihrer Kultur erleben. Passagiere zwischen Kultur und Natur, zwischen Machtraum und Landschaft. Zudem ist der archaische Sinn des Ortes Stonehenge ja ganz unklar. Es ist die individuelle Sinnzuschreibung, die Tess dazu treibt, den Satz von der Ankunft auszusprechen. Hervorzuheben ist, dass das Paar keine Gemeinschaft um sich hat, keine eingelebten Traditionen exerziert, keinem gesellschaftsbildenden Glauben anhängt. Sie haben sich an einem Durchgangsraum niedergelassen und dort den Ort gefunden oder erfunden. Das Moderne daran ist – und hier stellt sich mein Konzept gegen das kultur- und modernekritische von Augé –, dass Orte vielleicht auch als ephemere Gegebenheiten innerhalb einer auf Mobilität, Medialität und Profanität basierenden Kultur gebildet werden können. Allgemeiner gesprochen: Welche anspruchsvollen oder trivialen Praktiken werden von den Entwurzelten wann und wo in Szene gesetzt? Dahinter steht die Vermutung, dass das Ich ein Begehren spüren mag – gleichsam eine historisch und kontetxtuell angepasste anthropologische Nötigung – , diesen Andrängungen des Leeren etwas Eigenes entgegenzusetzen. Die je individuellen und kulturell entstehenden Formen der Ortbildung gilt es zu identifizieren und die Kraftfelder der Auseinandersetzung zu beschreiben.

Die Intuition des Autors Hardy besteht darin, dass er die alte Idee vom Ort im Lichte moderner Entwurzelungserfahrung revidiert. In der literarischen Verdichtung gelingt es ihm sogar noch, die kalt-instrumentelle Raumverfügung vorzuführen, die von der Orthaftigkeit des Raums nichts wissen darf. Sie tritt auf in Gestalt von Polizisten; sie umstellen den Ort, besetzen seine Öffnungen, um zu erfassen, festzusetzen, den Ort machttechnisch zu markieren.

Innerhalb dieser drei Parameter – archaisch-anthropologischer Ort, modern-ephemerer Ort und machtstrukturierter Raum – spielt nun meines Erachtens das Bild von Stonehenge eine signifikante Rolle. Ich sprach davon, diese Architektur emblematisch zu verstehen. Unabhängig vom historischen Sinn ist in ihr das Bild des Offenen, der Umgebung, des Durchgängigen, der multiplen Richtung eingelassen. Es ist eine Architektur ohne Dach, ohne Türen aber mir vielen Aus- und Eintritten. Sie ist eine Räumlichkeit, die sich gerade nicht auf das territoriale Gefüge reduzieren lässt. Sie lädt ein zu Praktiken des Nomadisierens und zeigt dennoch identitätsbildende Potenziale. Meine Frage: Lässt sich dieses Bild in eine Praxis des Ortes übersetzen?Ein anderer Theoretiker des Ortes, Michel Serres, hat in diese Richtung gedacht. In Absetzung vom euklidischen oder cartesianischen Raum entfaltet er ausgehend von der Topologie die Idee des qualitativen Raums. Die Topologie kümmert sich um die Verteilung von Punkten in komplexen räumlichen Arrangements. Die Topologie sucht nach Beziehungen im Fluxus von Veränderungen. Das ist zu übersetzten mit Fragen nach dem Offen und Geschlossenen, nach Verbindungen und Unterbrechungen, nach Schwellen und Transfers, nach Kommunikation.7 Ich nenne lediglich diese Begriffe als Anreiz, um darüber nachzudenken. Ich finde sie aber bereits in Hardys Verwendung von Stonehenge angesprochen. Serres selbst schreibt, dass unser Körper mit der Vielfalt dieser Räume bzw. Orte blind umgeht und dass eine Ästhetik dieser Räume noch nicht geschrieben ist. Das wäre vielleicht unsere Aufgabe: die Blindheit in Sehen zu verwandeln und eine Ästhetik, ein Wahrnehmen zu entwickeln. Soviel lässt sich sagen: Der Ort ist keine abmessbare Sache. Auch wenn er eine räumliche Qualität hat, geht sein Sinn darüber hinaus. Er ist nicht der Platz der Effizienz, der Störungsfreiheit, der bloßen Regeneration, des katalogisierbaren Wissens. Ganz vorläufig schlage ich als Kategoriengerüst für Ort eine Begriffstrias vor: Symbolmanifestation, Praktik und Imagination.

Symbolmanifestation: Das Räumliche geht mit einer Gestaltung eine Allianz ein, woraus ein Sinn erwächst. Diese Anreicherung kann von bewusster künstlerischer Formung bis zur beiläufigen Einschreibung reichen. Das Benutzen schafft Symbolik.

Praktik: Der Ort gibt Platz für Tätigkeiten, die über die Selbsterhaltung hinausgehen. In der Praktik findet sich das Subjekt, kann Soziales herstellen, kann experimentieren, reflektieren, unsinnig sein …

Imagination: Unter Imagination fasse ich nicht nur innere Prozesse des Fantasierens und Träumens, sondern auch die Bildung von eigenwilligem Wissens, von Erzählung und Identität. Ich spreche diese Punkt an, da die gesellschaftliche Modernisierung mit ihrer Produktion von Massenarbeitslosigkeit und flexibilisierten Tätigkeitsmenschen ungeheure Reservoirs an Fähigkeiten und Wissen hervorbringt, die nicht mehr in der Verwertungsöffentlichkeit erscheinen. Diese unsichtbaren Kompetenzen suchen einen Ort – so meine Behauptung.

Meine These lautet also: Wenn Symboläußerung, Praktik und Imagination zusammen kommen, dann vollzieht sich die Produktion eines Ortes. Sie merken, dass es schwierig ist, dieses Dritte neben einer archaischen Ortidylle und einer globalisierten Raumbeherrschung mit ihrer Ökonomie optimierter Praxis dingfest zu machen. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob sich mit diesem Konzept bereits Wirklichkeiten erkennen lassen oder ob ich lediglich eine wunschartige Utopie veranschlage, die aus der Krisendiagnose erwächst. Die Utopie, wörtlich: Nicht-Ort, ist im Kern ja stets das historisch gebundene Gegenmodell zu realen Gegebenheiten, die als bedrängend, mangelhaft oder ungerecht erfahren werden. Lassen Sie mich in diesem Kontext auch den nicht kanonisierte Begriff der Heterotopie (Andere-Ort) nennen, den Michel Foucault geprägt hat.8 Heterotopien sind Orte des Austritts und der Illusion (was sie in die Nähe der Utopie bringt). Aber anders als die Utopie, die rein literarisch bleibt, sind Heterotopien reale Plätze, von denen aus man wieder zurückkehrt in die Wirklichkeit der Räume: Foucault nennt Kino, Theater, Garten, Friedhof, Museum, Bibliothek und das Schiff, das nicht als Transportmittel verstanden, sondern als Chiffre für Flucht, Traum, Ankunft, Probegemeinschaft ausgedeutet wird. Das klingt nach Kompensation, nach Ersatz. Oder liegen hier schon die Muster für die volle Orterfahrung vor?Wie auch immer: Wenn es stimmt, dass mit der Beherrschung des Raumes eine instrumentelle Logik Überhand gewinnt, dann steht der Ort ein als Instanz, wo es um vitale Fragen der Freiheit, der individuellen Selbsterzeugung, der Ethik, der Gestaltung von Lebensarten, der Verwendung von Symbolen, der Erinnerung, des Widerstands, des begehrten Wissens geht. Gerade auch mit Blick auf die Gestaltung von Umwelten – auch unter Einsatz von Medien und Kunst – wäre mit der kritischen Instanz Ort das Gefüge von Nachbarschaften zu analysieren. Nicht der abgekappselte Ort, sondern die Kombinatorik der Orte und Räume steht zur Debatte. Damit ist nicht weniger als ein politisch-anthropologisches Unterfangen bezeichnet. Denn es ist ja zu fragen, was den Menschen ausmacht, welche Potenziale ihm innewohne, die er in seinen Wanderungen zwischen Räumen und Orten entfaltet. Anders als das Konzept vom anthropologischen Ort, das mit einem statischen Menschenbild arbeiten kann, sind wir mit einem humanum konfrontiert, das sich beständig zu wandeln scheint. Und es bleibt die große Frage, ob in den Veränderungen grundlegende Gaben oder Mängel, die den Individuen mitgegeben werden, Evolutionen durchlaufen und weiterhin die Notwendigkeit eines Ortbezugs einklagen. Politisch nenne ich diese Frage, weil es letztlich darum geht, wie die differenzierten, komplementären oder auch konfligierenden Fähigkeiten erscheinen, in Beziehung zu einander treten, wie sie wirken und welche Kultur daraus entsteht (bzw. entstehen soll). Wenn ich sagte, dass es schwierig ist, jenseits der Abstraktion und Utopie ein aussagekräftiges Vorstellungsbild vom Ort zu zeichnen, dann mag es genau daran liegen, dass entscheidend für seine Existenz unsichtbare Qualitäten sind und er die Tendenz hat, sich der diskursiven Disziplinierung zu entziehen. Dennoch möchte ich Versuche unternehmen, die Abstraktion zu unterlaufen und Ahnungen zu geben, wie sich Ort im Konkreten herstellt. Zu dem Beispiel aus Thomas Hardys Roman möchte ich noch drei weitere hinzufügen. Ich will ihren Stellenwert nicht überbetonen, nicht schon das Feld damit abstecken. Aber sie geben vielleicht ein Gefühl davon, dass sich mit ‚Ort‘ ganz unterschiedliche Ästhetiken, Denk-, Fühl- und Wissensweisen verbinden.

1. Beispiel: Ich entnehme es Claude Lévi-Strauss‘ Buch Traurige Tropen.9 Der Forscher reist mit dem Schiff, er überquert das Meer. Das Meer ist anders als das Land Sinnbild einer Leere, es enthält keine Zeichen, keine Menschen, keine zu deutenden Details. Es ist rohe Natur. Und das Schiff – nichts weiter als die Wartestation bis zur Begegnung mit der fremden Kultur? Am siebten Grad nördlicher Breite weiß Lévi-Strauss zu berichten, dass im Jahre 1498 Columbus genau hier einen Kurswechsel vollzogen hat, der ihn zur Entdeckung Brasiliens führte. Das Meer ist für einen Moment eine Einschreibefläche für Historie, die man zwar nicht sehen aber wissen kann. Im gleich Atemzug berichtet er von den alten Seefahrern, die nicht das Neue suchten, sondern glaubten, auf den Spuren Odysseus oder der Bibel zu reisen, um das Bekannte wiederzufinden. Der Autor füllt das Naturding und den Raum Meer sinnbildlich auf, weil er die Geschichte der Conquistadores und Entdecker kennt. Für einen Augenblick wird Lévi-Strauss heimisch, sieht sich in einer Genealogie und identifiziert sich. Das Meer wird durch den symbolischen Akt des Wissens und der Imagination zum ephemeren Ort, der sich aus der puren Räumlichkeit und Unstrukturiertheit erhebt.

2. Beispiel: Kunst – kann Sie Hinweise auf Produktionsprozeduren geben, die auf die neuen Lebensweisen in Raum, Virtualität und Mobil reagieren? Auffällig ist, dass seit den sechziger Jahren die Notate der Nicht-Ort, der Orte der Leere und Leblosigkeit fasziniert haben: von der New Topography (Ed Ruscha, Dan Graham) bis zur gegenwärtigen Architekturfotografie der Bechers und ihren Schülern reicht die Ikonografie der Vakuen und der grafischen Oberfläche

 Ed Ruscha: 26 Gasoline Stations, 1963

Diese, das Statuarische monumentalisierende Kunst, hat ihren Kontrapunkt in vielerlei Beschäftigungen mit Räumen, die Entwürfe für das Lebendige oder Reflexionen darauf sind. Nur zwei Namen mögen für diese Tendenz stehen: Tracy Emin und Andrea Zittel.


Tracy Emin: Everone I Have Ever Slept with 1963-1995, 1995

Vor allem Zittel beschäftigt sich systematisch mit den Bedingungen moderner Lebenswelt. Als Beispiel wähle ich die Escape Vehicles. Die Künstlerin kommentiert diese wohnwagenähnlichen Kästen ohne Räder im Sinne der spannungsvollen Opposition von Bewegung (Vehicle) und Eigenraum: „Die ‚Escape Vehicles‘ sind Ausdruck unseres Wunsches nach einem sicheren und behüteten Universum, in das jeder Besitzer seine eigenen Rückzugsphantasien hineinprojizieren kann. Sie handeln von unserer Neigung, uns auf innere Welten im Gegensatz zur äusseren Welt zu konzentrieren. […] Insgesamt habe ich zehn ‚Escape Vehicles‘ gemacht; inzwischen ist jeder einzelne Innenraum vom jeweiligen Besitzer nach dessen individuellen Rückzugsphantasien gestaltet.“10

Nun könnte man einwenden, dass mit diesen Kapseln lediglich das geschrumpfte, auf monadische Einsamkeit reduzierte Subjekt thematisiert wird. Aber genau darum muss sich eben auch das Konzept des Ortes kümmern, um diese Formen moderner Zurichtung und ihren Reflexen darauf. Immerhin schafft es Zittel, das Kunstwerk dem Kosmos bloßer Betrachtung zu entziehen. Hingestellt wird eine Nische zum Phantasieren, Denken, Müßigsitzen, die das Subjekt rücksichtslos nach seinen Maßgaben mit Symbolen ausgestalten kann. Das Vehicle, das Bewegungsmittel ohne Bewegung bringt die innere Welt in Bewegung. Bleibt die spannende Frage, was davon nach außen getragen wird, hinein in andere Orte, andere Räume?

3. Beispiel. Der Flaneur. Beide letztgenannten Hinweise sind darin ähnlich, dass der Ort sich engräumig auf einem Punkt oder in einer Kleinwelt realisiert. Anders verhält es sich in der Strategie des Flaneurs, jener signifikanten historischen Gestalt des 19. Jahrhunderts, der Walter Benjamin seine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Der Flaneur repräsentiert einen anderen, großzügigeren Umgang mit Raum und seiner Umgestaltung in einen Ort. Der Flaneur durchstreift die Stadt mit ihren Waren und massenhaften Triebsamkeiten, setzt ihr jedoch Langsamkeit, Betrachtung, Traumverhalten entgegen. Er nimmt das Vorfindliche und investiert Imagination, um es zu individualisieren. Benjamin: „Die Kategorie des illustrativen Sehens [ist] grundlegend für den Flaneur […] er schreibt […] seine Träumerei als Text zu den Bildern.“11 Der Flaneur zeichnet seine erratischen Wege unsichtbar in die Stadt ein. „Die Menge“, so Benjamin, „ist der Schleier, durch den hindurch dem Flaneur die gewohnte Stadt als Phantasmagorie winkt. In ihr ist sie bald Landschaft, bald Stube.“12 Die Flanerie vermag die Stadt in ein Interieur zu verwandeln, „eine Wohnung, deren Gemächer die Quartiers sind“.13 Dem Flaneur wird das Rauschen zum Rausch, worin die rationale Durchstrukturierung des Raums aufgehoben wird in etwas Erlebnishaftes und Performatives. Der Ort kann also durchaus Ausdehnung haben, er muss nicht privatistisch unsichtbar sein. Eher stellt sich das Problem des Um-Gangs. Interesse kann der Flaneur m.E. heute noch haben, da er die Figur des Reisenden präfiguriert, die heute allgegenwärtig ist.Da wir hier im Kontext von Medien und Medienkunst situiert sind, möchte ich meine Übelegungen mit einigen Beobachtungen zu den elektronischen Medien und ihre Realtion zu Orten abschließen.

Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass es eine Kulturkritik gibt, die in den global vernetzten Medien Raumvernichter erkennen. Ich lasse noch einmal Paul Virilio sprechen:

„Die neuesten Technologien lassen den Raum in seiner Ausdehnung und Dauer verschwinden. Sie reduzieren die Welt auf ein Nichts, wie man sagt. Das ist ein tiefgreifender Verlust […] Es gibt eine Verschmutzung […] der Distanzen und der Zeiträume, die mich im Hier und Jetzt leben lassen, an einem Ort und in der Beziehung zu anderen Menschen, die durch Begegnungen entsteht, nicht durch eine Tele-Präsenz, eine Tele-Konferenz oder Tele-Shopping.“14

70 Jahre vor Virilio die gleiche Kritikgeste: In Der Zauberberg beschreibt der Erzähler einen Kinobesuch; zu sehen gibt es die „Bilder aus aller Welt“:
„Man war zugegen bei alledem; der Raum war vernichtet, die Zeit zurückgestellt, das Dort und Damals in ein huschendes, gaukelndes, von Musik umspieltes Hier und Jetzt verwandelt.“15

Was wir mit den elektronischen Medien verbinden, sind geregelte Nutzerprozesse statt Begegnung, Bilder statt Imagination, Maschinenlogik statt Soziabilität, Information statt eigensinnigem Wissensaufbau, Simulation statt Realitätserfahrung. Ich will dies nicht vertiefen, das gezeigte Filmzitat aus Der perfekte Krieg hatte in dieser Hinsicht einiges Demonstrationsmaterial geliefert. Doch möchte ich zwei Beobachtungen nennen, die sich an diese neuen Gegebenheiten anschließen.

Die erste Beobachtung liegt auf symbolischer Ebene: Es fällt auf, dass die neuen Medien mit Metaphern infiziert sind, die noch an alte Konzepte der Raumverbundenheit appellieren. Begriffe wie virtueller Raum, Cyberspace, Datenautobahn, Lernumgebung, Informationsarchitektur, Fenster, Besucher, Domäne, Forum, Nomade, Site, Portal, Workspace, Navigieren, Briefkasten etc. sind vielleicht nicht nur notwendig, um eine Übersetzbarkeit und Besetzbarkeit des Neuen zu gewährleisten, sondern auch, um einen Sinnhorizont aufzuspannen, der vergessen lässt, dass man es mit nichts als mit Pixeln zu tun hat, mit Rechenoperationen und mit symbolischen Oberflächen. Die zweite Beobachtung bezieht sich auf die Ubiquität der Medien: In ihrer mobilen Form scheinen Sie dazu erfunden worden zu sein, um an die Augéschen Nicht-Orte gebracht werden. In der Bildbank von Getty finden Sie eine Vielzahl von Visualisierungen, die diese neue Lebenswelt glorifizierend wiedergeben. Ich habe nur einige paradigmatische Bilder ausgewählt, um Ihnen die brave new world of media and traveling anschaulich zu machen.

So wie die Raummetaphern in den Medien vielleicht Kompensationsfunktion in Bezug auf den Raumverlust haben, so haben die mobilen Medien in den Transiträumen Kompensationsfunktion in Bezug auf den Ortverlust: Die solipsistische Beschäftigung mit dem Gerät schattet die leere, symbolschwache und praxisarme Umgebung ab und erfüllt das Subjekt mit selbstgenerierten Ereignissen. Sollte man also in der Mediennutzung eine zeitgenössische Form der mobilen Orterfindung erkennen? Das ist meine erste Frage. Sie lässt aber noch ganz offen, welche Ereignisse, welche Symbolisierungsstrategien, welche sozialgestaltenden Prozesse hier stattfinden und ob sie überhaupt stattfinden.Und die Medienkunst? Entschuldigen Sie, wenn ich nur generalisierend sprechen kann, doch erscheint es mir, dass auch in dieser Sparte bei aller hoch entwickelter technischer Raffinesse und Interaktionspotenziale zwischen Werk und Rezipient eine grundlegende Struktur erhalten bleibt, die generell der profanierten Kunst eigentümlich ist: Das Werk bietet sich zur kontemplativen, distanzierten Betrachtung an, vermittelt einen Inhalt, bleibt aber als eigensinnige symbolische Form letztlich dem System Kunst zugehörig und lässt sich schwerlich in eine Praxis individueller oder kollektiver Lebensgestaltung integrieren.Wieder im beispielhaften Sinne zeige ich Ihnen zwei Beispiele von Medienkunst aus den 80er Jahren.


Marie-Jo Lafontaine: Victoria, 1988


Ira Schneider: Time Zones, 1980

Ich habe diese Kunstwerke allein deshalb ausgewählt, weil sie eine formale Korrespondenz mit Stonehenge haben – aber meines Erachtens vollständig anders funktionieren. Denn hier wird ein Bildraum geschaffen, der geschlossen ist, in dem der Betrachter gleichsam von allen Seiten angeschaut wird und dabei keine Transformationsmöglichkeiten erhält. Man könnte sogar sagen, dass hier Hyperkunstwerke vorliegen, die in ihre Gefängnishaftigkeit keine Leere lassen – für die Vorstellung, den Traum, den Kontakt.

Mein pathetischer Ortbegriff (wenn ich so sagen darf) sucht also nach anderen Schnittstellen zwischen Medium und Körper, Medium und Raum, Medium und Praxis. Die Frage, die ich habe: Gibt es jenseits von digitaler Simulation und Steuerungslogik, jenseits von Konsum und Kontemplation ein anderes Modell? Anschließend an die Bilder in meinem Vortrag könnte die Frage auch positiv gestellt werden: Wäre es möglich, unter Einsatz von Medien so etwas wie Stonehenge zu erstellen – nur eben nicht mit der Dunkelheit und Schwere des Ewigkeitsmonuments, sondern leicht, ephemer, individuell, spielerisch …


1 Norbert Bolz, Weltkommunikation, München 2001.
2 Paul Virilio, Der negative Horizont, München 1989, 114.
3 René Descartes, Abhandlung über die Methode, Dritter Abschnitt.
4 Michel Serres, Die fünf Sinne, 349.
5 Thomas Hardy, Tess of the D’Urbervilles, New York 1993, 364-365.
6 Marc Augé, Orte und Nicht-Orte, 92-93.
7 Michel Serres, Hermes 5, 88.
8 Michel Foucault, Andere-Räume.
9 Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen
10 http://www.xcult.org/x/checkin/aus/texte/zittel_t.html.
11 Walter Benjamin, Passagen-Werk, 528.
12 Ebenda, 54.
13 Ebenda, 531.
14 Die Informationsbombe – Paul Virilio und Friedrich Kittler im Gespräch. Ausgestrahlt im Deutsch-Französischen Kulturkanal ARTE November 1995, in: http://www.jcpohl.de/texte/virikitt.html
15 Thomas Mann, Der Zauberberg.

Vortrag: Trier 29.1.2005

© Gunnar Schmidt