Ikone
Design-Ikone – eine Auszeichnung, eine Behauptung, ein Marketing-Buzzword, ein Begriff? Die Bezeichnung eröffnet einen semantischen Hallraum, in dem sich unterschiedliche Bedeutungsakzente überlagern: Die Titulierung eines Objekts als Design-Ikone ist zunächst ein Akt der Bewunderung, der sich sowohl auf einen Markterfolg als auch auf eine bemerkenswerte Formgebung bezieht. Designerische Ingeniosität und Marktakzeptanz gemeinsam geben an, dass das Objekt nicht nur einem Nutzungsbegehren entspricht, sondern dass es einem Epochengefühl, einem Zeitgeist oder Zeitgeschmack Ausdruck verleiht. So ungenau diese Kennzeichnungen sind, sie entsprechen der weithin geteilten Gewissheit, dass Dinge über ihren pragmatischen Gebrauch hinaus einen kulturellen Repräsentationswert besitzen. Aus diesem Grund werden Design-Ikonen aus dem Leben genommen, um in Museen aufbewahrt zu werden – und um im schönen Tod eine Aufbahrung zu erfahren. Der ästhetische, musealisierte Glanz wird durch das Grundwort im Kompositum zeichenhaft gespiegelt: Ikone ruft in der engen Wortbedeutung (Ikon) die Vorstellung von Bildlichkeit auf, mithin von Visualität und Abgetrenntheit. An die Stelle des Gebrauchswerts tritt der Schauwert. Darüber hinaus schwingen Bedeutungen wie Leitbild, Idol und Mythos mit, die sich bis zum religiösen Gehalt ausweiten können: Die Ikone stellt heilige Personen und letzthin göttliche Gegenwart dar. Mit dem Unschärfecharakter der Kennzeichnung – Feststellung, Deutung, Aufwertung – wird nicht nur eine Erfülltheit des Sinns erwirkt, implizit wird ein Vermischungsszenario mitgeliefert, in dem Design und Kunst ihre Konturen aneinander abreiben. Die Frage, ob der Ikonen-Status von Designobjekten den Anspruch auf Kunstwürdigkeit einschließt, soll in der folgenden Erörterung keine Rolle spielen; vielmehr wird am Beispiel einer Design-Ikone und ihrer künstlerischen Effekte nachvollziehbar, wie die Kategorie des Ästhetischen als Schaltstelle fungiert, über die unterschiedliche Verhältnisse zum Objekt geregelt werden. Aus diesen Verhältnissen ergeben sich Verwirrungen, die nicht als Sinnpathologien, sondern als Charakteristikum einer differenzierten ästhetischen Kultur gewertet werden.

Mythos
Als 1955 auf dem Pariser Autosalon der Citroën DS vorgestellt wurde – „le clou de salon“1, wie es in einem zeitgenössischen Wochenschaubericht hieß –, schien eine neue Zeit des Auto-Designs angebrochen zu sein: Das vom italienischen Industriedesigner und Bildhauer Flaminio Bertoni (Abb. 1) entworfene Fahrzeug ähnelte nicht mehr der Kastenform herkömmlicher Autos, sondern in seiner stromlinienförmigen Flachheit mit aufgesetzter Kuppel eher einem UFO.


Abb. 1. Flaminio Bertoni, 1954

Ob UFOs, die seit den späten 40er Jahren die populärkulturelle Imagination befeuerten, Bertoni inspiriert hatten, ist nicht nachzuweisen. Das Unternehmen jedoch unterstützte durch medial-inszenatorische Maßnahmen konsequent die Assoziationen zu den fantastischen Flugobjekten: Auf mehrenen Automobil-Ausstellungen in europäischen Hauptstädten und in Produktkatalogen wurde die DS als geschlossener Korpus ohne Räder präsentiert – „suspended in the air […] as if a spaceship from some future world – a startlingly modernist sculptural statement from Bertoni.“2 (Abb. 2, 3) Die Verwandlung der DS in ein Identified Flying Object wird am konseqentesten im Katalog von 1958 vorgeführt (Abb. 4). Innerhalb eines modernistischen Grafikdesigns erscheint die Frontansicht aufgrund von Perspektivverkürzung und Untenansicht als gewölbter Rundkörper, wie er von der UFO-Ikonografie etabliert wurde. Die beigegebene Konzeptzeichnung bestätigt die Analogie – ohne den Kontext wäre diese Abbildung kaum anders als Darstellung eines Raumschiffes zu interpretieren gewesen.


Abb. 2. Katalog, 1959


Abb. 3. Autosalon Kopenhagen, 1958


Abb. 4. Katalog, 1958

Die designerischen und inszenatorischen Zukunftsallusionen passten in die Zeit: In der Mitte der 50er Jahre erfolgte der Umbruch von der Nachkriegszeit mit ihren Nöten und Ruinenmilieus zur Epoche des Konsums, einer neue nLeichtigkeit und Mobilität. Der Citroën entsprach in seiner Funktionalität, Materialität und Semantik dem Gefühl des Aufbruchs und des Hinter-sich-Lassens. Die Windschnittigkeit, neue leichte Materialien und eine innovative Federungstechnologie, die ein schwebendes Fahren versprach, ergaben das Image von Komfort, Schnelligkeit und Zukunftsorientierung. Das Erlebnis- und Sinnversprechen wurde nicht nur durch die Designsprache und die UFO-Allusionen erzeugt; bekanntlich spielte der Autokonzern mit der Modellbezeichnung DS die homophone Beziehung zu Deesse (Göttin) strategisch aus. Die überhöhende Verweiblichung – die im Französischen durch das grammatische Geschlecht von la voiture gestützt wird – versieht das Auto mit der Vorstellung von Erhabenheit und Freundlichkeit. Roland Barthes hat in seiner 1957 veröffentlichten Essaysammlung Mythen des Alltags diesem semantischen Komplex eine Reflexion gewidmet. In dem Essay „Der neue Citroën“ interpretiert er das Auto als einen „Boten des Übernatürlichen“ und erkennt im Objekt eine „Vollkommenheit“, einen „Glanz“ sowie „eine Stille, die zum Reich des Wunderbaren gehört.“3 Dieses hyperbolische Sprechen entspringt der Überzeugung, dass das Objekt mythisch verfasst sei: Bilder und Metaphern, die gleichsam aus der Sache selbst zu entspringen scheinen, vermitteln den Eindruck von „Vergeistigung“. Und so sind „die Scheiben hier nicht mehr Fenster […], sondern große Flächen von Luft und Leere, mit einer weiten Krümmung und dem Glanz von Seifenblasen“.4 Barthes deutender Überschwang ist nur nachzuvollziehen, wenn die Szene auf dem Autosalon mitgedacht wird. Barthes betrachtet nämlich nicht das Fahrzeug in seiner Alltagsumgebung, sondern das Exponat auf der Autoausstellung. Dies ist der Ort, an dem an Imagines appelliert wird und wo Erregungszonen errichtet werden (Abb. 5).


Abb. 5. Pariser Autosalon, 1956

Dadurch, dass der Funktionskontext ausgeblendet und eine Quasi-Musealisierung vorgenommen wird, nähert sich das Objekt/Design dem Bereich der Kunst an: Nicht die handhabende Dingnutzung steht hier zu Gebote, sondern die Erfahrung mit der Zeichenhaftigkeit. Barthes unternimmt es, ein Gesamtempfinden zu versprachlichen, wobei er das Ziel verfolgt, den Fetischcharakter des Automobils zu entlarven. Entsprechendendet der Essay mit der Entmythifizierung der Deesse: In die Sphäre des Gebrauchs entlassen, verwandeltsich die Göttin, die sich herabgelassen hat, um dem „Volk“ zu dienen, in eine Prostituierte.

Die wechselvollen Zuschreibungen spiegeln die Doppelrolle des Ästhetischen – einerseits Kolonialgebiet der Emblematiker aus der Werbebranche, andererseits anarchische Offenheit, die auf die Ankunft von Sinn wartet, der von den interpretierenden Konsumenten produziert wird. Barthes‘ Text kann als Artikulation auf der Grenze dieser beiden Logiken aufgefasst werden. Aus dieser Konstellation wird aber auch erklärlich, dass Barthes selbst eine konfuse Position einnimmt, denn entgegen seiner Intention betreibt auch er die Mythisierung der DS. Dies kommt in der kurzen Eingangspassage seines Essays zum Ausdruck, in der es wie in einem Glaubensbekenntnis heißt: „Ich glaube, daß das Automobil heute die ziemlich genaue Entsprechung der großen gotischen Kathedralen ist. Soll heißen: eine große epochale Schöpfung, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern entworfen wurde und von deren Bild, wenn nicht von deren Gebrauch ein ganzes Volk zehrt, das sie sich als ein vollkommen magisches Objekt aneignet.“5

Durch die Analogie, die Barthes mehr behauptet als begründet, wird das profane Fahrzeug monumentalisiert, wird das Industriedesign in den Bereich einer metaphysischen Gegenwelt verpflanzt, die nichts mit trivialen Alltäglichkeiten zu tun hat. Barthes Aussage ist mit zwei Verweisen zu flankieren, die das Zusammendrängen von Design, Kunst und quasi-totemistischer Magie kenntlich machen. Der erste ist eine Fotografie vom Pariser Autosalon des Jahres 1962, die vermutlich das Unternehmen Citroën selbst in Auftrag gab6 (Abb. 6): Wie bereits in der Broschüre des Jahres 1955 ist die elegante radlose Rohgestalt zu sehen, nun jedoch aufgerichtet in einem Schacht. Diese aufstrebende Plastik ohne Gebrauchsintention demonstriert Ruhe und Auflehnung zugleich, als warte sie auf ihren Abflug. Tatsächlich erhielt dieses Pseudo-Vehikel den Namenszusatz La Fusée die Rakete.


Abb. 6. Pariser Autosalon, 1962

Es ist zu vermuten, dass die Namensgebung durch die bemannte Raumfahrt inspiriert wurde, die im Jahr zuvor begann; gleichzeitig bleibt die Inszenierung weiterhin der Sakralsemantik verpflichtet: Eine Nonne verharrt in Andachtshaltung vor dem Objekt. Dieses Bildelement erzeugt eine imaginäre Verschiebung oder Vertauschung, denn an die Stelle von Kruzifixgestalt oder Reliquie – z.B. der saumlose Rock Christi, mit dem Barthes die DS verglichen hat – ist die profane Autoskulptur getreten. Auch wenn der Zusammenhang nicht belegt werden kann, so ist anzunehmen, dass der Essay von Roland Barthes diese Inszenierung der symbolischen Gloria-Theologie mit angeregt hat. Die DS/Deesse erscheint doppelt konnotiert: als futuristisches Himmelsfahrzeug, das sich nicht der horizontalen Niedrigkeit der Straßen unterwirft, und als visionär-mystisches Himmelfahrt-Zeug, mit dem Erlösung erlangtwerden kann.7 Exzentrische Präsentation und sinnhafte Aufladung machen das Exponat im Kontext des Autosalons zur Sensation – wie es in gleichem Maße eine virtuelle Ausstellungstauglichkeit für den Kunstkontext erlangt. Das wilde Assoziationskonglomerat aus Raumfahrt, religiöser Herrlichkeit, Weiblichkeit, fetischhafter Phallizität, Musealität und Kunst entfremdet das Objekt von seiner Weltlichkeitund verwandelt es in einen Imaginationscontainer. Dass die Imageifizierung des Produktdesigns tatsächlich Imaginationsappelle auszusenden vermochte, lässt sich an Effekten in den Medien ablesen: Legendär ist die Verwandlung des Citroen DS in ein Flugzeug im Film Fantomas gegen Interpol (Originaltitel: Fantômas se déchaîne) von 1965. Mit diesem Fahrzeughybrid flüchtet der geniale Verbrecher Fantomas vor dem Zugriff der Polizei (Abb. 7).


Abb. 7. Fantomas gegen Interpol (Film Still), 1965

Während die Deese in der Krimikomödie dem Wahrscheinlichkeitsdiktat gehorchend noch Flugzeugtragflächen und Düsenantrieb benötigt, um abheben zu können, erlangt sie in zwei anderen Medienadaptionen eine surreale Leichtigkeit und magische Gravitationsunabhängigkeit. Im Vorspann der SF-TV-Serie EUReKA (2006/07) wird die Levitation ironisch ausgespielt, indem eine radlose Deesse zu sehen ist, die gerade betankt wird (Abb 8). Den gleichen ikonografischen Ansatz verfolgt der Schwede Jacob Munkhammar, der mittels Bildbearbeitungssoftware die Räder aus vorgefundenem Bildmaterial eliminiert (Abb. 9). Unübersehbar setzen beide Bilderfindungen die etablierten Images aus den 1950er fort, die aus dem Fahrzeug ein Luftschiff machten.


Abb. 8. Vorspann der TV-Serie EUReKA, 2006/07

 Abb. 9. Jacob Munkhammar: aus der Serie „Flying Citroens“, 2013-15

Der zweite Verweis zu Barthes‘ Kathedralenvergleich geht zurück zum Ursprung der künstlerischen Avantgarde: Im ersten Manifest des Futurismus (1909) findet sich folgende vielfach zitierte Sentenz: „Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit derWelt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.“8 Man könnte meinen, dass Roland Barthes, wenn er die Sakralarchitektur auf eine Stufe mit dem Automobil stellt, FilippoTommaso Marinettis Deklaration nachbildet. Beide können die Überblendung von Sakralem und Profanem vornehmen, weil in der Epoche der Moderne die Unterscheidung zwischen den Sujets der Kunst und der Nicht-Kunst, zwischen Kunst-Medien und Nicht-Kunst-Medien beseitigt wird. Der Austausch des Alten mit dem Neuen erfolgt dabei nicht auf Basis der Kategorie der Innovation, die für gewöhnlich Design-Prozesse motiviert und die Transformation regelt; veranschlagt werden die Kategorien der Schönheit und des Affekts, um Modernität anzuzeigen. Das Automobil wurde von den Futuristen nicht in erster Linie als sachdienliches Fortbewegungs- oder Transportmittel angesehen, für sie war es ein Medium, das aufgrund seiner ästhetischen Form und der damit verbundenen Erlebnismöglichkeiten geschätzt wurde – ein Sinnlichkeitsoperator. Dass Marinetti das Automobil an die Stelle einer Göttin rückt, kann nachträglich als bedeutungsvolle Koinzidenz anerkannt werden: Marinetti präfiguriert die Citroën’sche Kommunikationsstrategie der Vergöttlichung des Designs einschließlich der metaphysischen Resonanzen.

Die Diagnose fällt eindeutig aus: Zwischen den Bereichen des Designs und der Kunst werden Formen, Diskurse und Rezeptionsweisen ausgetauscht und adaptiert. Dies bleibt nicht ohne Wirkung auf die Produktion – womit nicht nur die Persönlichkeitsspaltung Flaminio Bertonis gemeint ist, der als Industriedesigner und Bildhauer gearbeitet hat. Die Bewegung heraus aus dem Nutzungskalkül hin zu einer ästhetischen Erfahrungsqualität, die im Ikonisch-Werden des Deesse-Designs angelegt war, wird auf sehr unterschiedliche Weise von zwei Künstlern durch das Verfahren des Objektumbaus vorangetrieben, sowohl auf der Ebene des Designs wie des Maschinenbaus.

Verfremdung
1993 realisiert Gabriel Orozco seine Arbeit La DS sowie 2013 eine zweite Version mit der Titelbezeichnung LA DS Cornaline. Der mexikanische Künstler hat einem Citroën DS aus den 60er Jahren der Länge nach ein Drittel seines Volumens entnommen und die Seitenteile zu einem neuen Ganzen zusammengefügt (Abb. 10). Die Reduktion, Rekonfiguration und der damit einhergehende Proportionsumbau ergeben ein Ding, das einerseits die Aerodynamik des Originals zu überbetonen scheint, anderseits fragiler, fast spielzeugartig wirkt. Das Auto, das zwar über Räder verfügt, jedoch zu Stille und Stillstand im Kunstraum verpflichtet ist, kann eine Zwiespältigkeit beim Betrachter erzeugen: Wird es gedanklich mit der Ikone verglichen, entsteht ein Komik-Effekt; in seiner skulpturalen Eigentümlichkei thingegen wird La DS als eine fließende Form im Raum erlebbar, als Schönheit ohne Ausdruck, ohne Repräsentationsnotwendigkeit.9


Abb. 10. Gabriel Orozco:LA DS Cornaline, 2013

Wenngleich die Arbeit die wohl bekannteste des Künstlers ist, hat sie beider Kritik nicht nur Zustimmung gefunden. Verglichen wird sie mit Duchamps Ready-mades und muss sich den Vorwurf der schalen Nachahmung gefallen lassen; kritisiert wird sie als „skinny, doofy-looking, nonrunning vehicle“10, das kaum mehr als ein Witz ist: „To me it looks as though he’d taken a great deal oftrouble to make a very small visual joke.“11

Diese Stimmen sind zu zitieren, da sie auf einem Missverständnis, auf einem bestimmten Konzept von Kunst basieren. Die Kritiker deuten nämlich Orozcos Verfahren der „Extraktion und Rekonfiguration“12 als künstlerischen Kommentar auf das Fahrzeug in seiner kulturellen Bedeutungshaftigkeit innerhalb der französischen Kultur.13 Diese Interpretation liegt nahe, wenn den ursprünglichen Kontext mitberücksichtigt: La DS wurde anlässlich der ersten Soloausstellung Orozcos erarbeitet, die in Paris stattfand. Damals durften die Besucher auch das Objekt berühren und sich hineinsetzen. Orozco ist aber weder ein Künstler à la Duchamp, der mit seinem Urinal, dem Flaschentrockner oder der Mona-Lisa-Reproduktion mit Schnurrbart einer Kunst des handwerklichen Virtuosentums oder geniehafte rGeistesgröße eine Anti-Kunst entgegensetzen will, noch ist er ein politischer Künstler, der nationale Mythen im Sinne Roland Barthes dekuvrieren möchte.14 Orozcos Kunst basiert vornehmlich auf Formoperationen, entsprechend hat er die Gestalt der Deesse als formalen Gegenstand der Weiterbearbeitung wahrgenommen. La DS ist nicht die Comic-Version von La Deesse, ist kein Symbol, keine Illustration, ja, nicht einmal eine Abstraktion des Originals. Vom Betrachter wird die Einlassung auf die präsentische Dinggegebenheit erwartet; ästhetischer Genuss ergibt sich aus dem unmittelbaren Kontakt sowie dem Erleben des Innenraums. Orozco hat in Bezug auf La DS angemerkt: „Of course, physically it is very thin, but emotionally or mentally it is much bigger and is immeasurable.“15 Das Ding steht für nichts als sich selbst, mit dem durchaus zu spielen ist. Wer Inhaltsschwere sucht wie die Kritiker, wird nichts finden. Der Vergleich, der statthaft wäre, müsste sich auf die stehende Deesse von 1962 beziehen, in der bereits das Form-Design als purer ästhetischer Eigenwert wahrnehmbar war, ein Nicht-Fahrzeug, eine Aufrichtung, die nicht mehr viel mit den umherstehenden Fahrzeuge in der Auto-Ausstellung zu tun haben wollte – eine nutzlose Sache. Gabriel Orozco und Flaminio Bertoni sind Geistesverwandte, die durch Formen die Anregung stiften, das Glück nicht in Belehrung, in konventionellen Ausdruckswerten und Zuschreibungen zu suchen, sondern im kurzen Moment einer Träumerei. Wer Besucher bei der Betrachtung von La DS beobachtet, der nimmt ein reges Umhergehen, ein Sich-Nähern, Erkunden, Diskutieren war. Das Auto ohne Räder und dasjenige ohne Fahrerlaubnis verfügen durchaus über die Kraft, Menschen zu bewegen.

Das zweite Beispiel einer fortführenden Ver-Formung der DS stammt von Chico MacMurtrie von der Künstlergruppe Amorphic Robot Works. In der Arbeit Totemobile (2007) wird ein Citroën installativ animiert, indem sich die Gestalt automatisch in Fragmente auflöst, ein mechanischer Körper daraus erwächst, der in die Höhe strebt, um anschließend zur Ursprungsform zurückzukehren (Abb. 1). Die roboterisierte Belebung, die sich in einer ruhigen, gleichmäßigen circa 10-minütigen Bewegung vollzieht, zeigt das Wunder einer Entfaltung, einer Veräußerung des Inneren:

„The initial form of the robotic sculpture is deceptively simple, and belies the existence of nearly 50 interdependent machines of varying aesthetic and functional purpose. As the sculpture opens and rises, these metal and inflatable machines give voice to varying modes of mobile abstraction, which develop throughout the growth and final „blooming“ of the full, 18-meter tall work.“16


Abb. 11. Chico MacMurtrie: Totemobile, 2007

MacMurtrie betont in einem Kommentar, dass der maschinelle Vorgang eine Metapher für Organizität und Wachstum darstelle. So nachvollziehbar diese illustrative Sinngebungsstrategie erscheint, sie insinuiert au fproblematische Weise eine Übereinstimmung zwischen dem Sichtbaren und dem Sinn. Dabei ist eine andere Qualität der Arbeit herauszustellen: Anders als Orozco, der die Idee der geschlossenen Form von Bertoni weiterführt, weitet Totemobile die ästhetische Grundierung erheblich aus. Noch einmal ist auf Barthes zurückzukommen, der den Eindruck von voraussetzungsloser Perfektion und Ursprungslosigkeit der DS analysiert hatte. In der Installation hingegen wird die Herkunft der Göttin dem Industrialismus zugewiesen, zu dem mittlerweile die Robotik gehört. Nicht jedoch wird die Oberfläche aufgebrochen, um sie als „Make-up der Maschine“17 durchschaubar zu machen und das elektromechanische Innenleben einer Fortbewegungsmaschine nach außen zu kehren. Das Innenleben zeigt eine ganz andere Natur, eine Mutation der automobilen Bewegung; zu beobachten ist nicht der zweckhafte, brutalistische Produktionsprozess, nicht das Mobil als Geschoss der Straße, sondern die sanfte Version eines futuristischen Gedichts in materieller Form. So wie das ursprüngliche Automobil bereits bei seiner ersten Präsentation eine andere Wirklichkeit als die des Straßenverkehrs andeutete, so wird 2007 ein ästhetisierter Automat vorgestellt, eine Choreografie voller Überraschungen, in der das Brummen, Schlagen und Reiben der Motoren und Gelenke einen musikalischen Soundtrack liefern. Dieser Automat entspricht nicht den enthemmten Robotern aus Science-Fiction-Filmen18, weder erzählt er eine Geschichte noch macht er uns Naturprozesse verständlich. Seine Leistung besteht darin, dass die Maschinität in den freien Bereich der Fantastik überführt wird. Die Transformation der Göttin in ein Skelett aus metallenen Teilen sowie das Aufbrechen der Schale beziehen ihre Legitimation aus der Logik des Ästhetischen, die den kalten Stoff der Industrie in ein Wärmeerlebnis verwandelt. Die Verlebendigung, die sowohl Unheimlichkeit wie Rührung zu vermitteln vermag, folgt nicht dem Modell der Repräsentation (des Körpers, der Biologie, des Monsters etc.), sie vermittelt ihre Faszination aufgrund der Präsenz von Tönen, Formen, Veränderungen und Unabsehbarkeiten an den Betrachter.

Fortschritt
Totemobile – nimmt man den Titel der Arbeit, der eine Anspielung auf die Ritualskulptur des Totempfahls enthält, vor allem inhaltlich ernst, so wird mit dem Begriff des Totems auf einen geistigen Ursprung hingewiesen: Der Geist der Moderne, der gemeint sein könnte, ist einer der Freiräume, in der die Mobilität im Zusammenspiel der Formen eine Beweglichkeit der Empfindungen und Gedanklichkeit ermöglicht – un dnicht der Geist der unaufhaltsamen Beschleunigung der wertschöpfenden Produktion oder der Lebensvollzüge.

Orozcos und MacMurtries Umdeutungen widersprechen der funktionalistischen Design-Logik, doch lenken sie den Blick gleichzeitig auf den Eigensinn des Formgefüges. Mögen auch in der Kultur des Ästhetischen die Design- und Kunstsphären mit ihren jeweiligen Experten, Institutionen und Diskursmedien getrennt bleiben, so lässt sich dennoch feststellen: Sichtbares Design tendiert dazu, mehr als eine Benutzeroberfläche zu sein. Was als Ware in die Welt gebracht wird, kann losgelöst von Profitabilität, Gebrauch und de reinhüllenden Semantikwolke betrachtet werden. Die Hauptrolle übernimmt hierbei der sinnlichkeitsempfängliche Nutzer, der für einen Augenblick, unbekümmert um die symbolischen Besitzbestände, eine Silhouette, eine Bewegung im Raum, ein Geräusch, ein Volumen oder das Ruhen eines Dings in der Zeit wahrnimmt. Zugegeben, dieses Konzept von Kunst ist ästhetizistisch, weil es einen flaneurhaften Müßiggang durch die Dingwelt als künstlich induzierte Halluzination visioniert. Diese Haltung, ehedem das Privileg einer künstlerischen Elite, kann mittlerweile als Bestandteil der ästhetischen Kultur Allgemeingültigkeit beanspruchen. Bereits im Citroën-Katalog von 1959 wird indirekt auf diesen Habitus angespielt, wenn dort unterhalb der Abbildung der UFO-DS die ersten Sätze aus Stéphane Mallarmés design-poetologischem Text „Sur le Beau et L’Utile“ („Über das Schöne und das Nützliche“) von 1896 zitiert werden. Der Dichter der reinen Poesie verwirft darin sowohl die bloß ornamentale Schönheit wie auch die pure Nützlichkeit, der die Eleganz fehle. Was ist aber mit Wahrheit (verité) gemeint, die Mallarmé als notwendige Verbindung zwischen Schönheit und Nützlichkeit einfordert? Liest man den Essay über das Zitat hinaus weiter, so erfährt man, dass das ideale Objekt „einen gänzlich modernen Eindruck von Wahrheit“ („causant une impression, toute moderne, de vérité“19) hervorrufen muss. Modernität und Impressionismus sind die zentralen Stichwörter, die Mallarmé am Beispiel des gerade erfundenen Automobils erläutert: Während der Ingenieur, so Mallarmé, sich mit der Vorstellung begnügt, mit dem Automobil das Pferd zu ersetzen, muss demgegenüber eine andere Idee, eine andere Wahrheit mit der Erfindung zum Ausdruck gebracht werden. Um den unabdingbaren Sinnkern anschaulich zu machen, wechselt der Dichter ins Feld des Designs und entwirft das Auto als Visionsmedium, als verglaste Galerie mit einem gebogenen Fenster („bow-window“), das einen Panoramablick auf die Landschaft ermöglicht. Ohne die Sicht zu behindern – der Fahrer wird hinter den Passagier ins Heck verbannt –, bewegt sich das „Monster“ voran, „avec nouveauté“. Für Mallarmé realisiert sich die Modernität des Automobils in der Möglichkeit eines cinematischen Schauens, einer ästhetischen Immersion in die Landschaft und nicht in der Sachlichkeit von Abfahrt und Ankunft.


Abb. 12. Ora Ïto: UFO, 2011

Als 2011 der französische Designer Ora Ïto im Auftrag von Citroën ein Objekt schuf, ein Hybrid aus Concept Car und Skulptur, das aus dem genetischen Design-Code der DS entwickelt wurde, schien die Vision Mallarmés Gestalt angenommen zu haben (Abb. 12). Dieses Zukunftsfahrzeug, das die Bezeichnung UFO erhielt, gibt sich als Schaukapsel, als schwereloses mobiles Refugium, das den Techno-Flaneur anspricht. Dieser Typus durchdringt nicht den Raum, sondern fühlt sich von ihm aufgenommen, getragen. Was bis heute das Auto kennzeichnet, die Fesselung des Blicks nach vorne, ist das Gegenteil von libertas locomotiva, die, wie Jörg Jochen Berns nachweist, ihren Ursprung in den medio-theologischen Konzepten der Renaissance hat20: Mallarmé bewahrt diese utopische Idee der Allseitigkeit des Sehens und Bewegens, wie auch Ïtos UFO, das keine Projektilform mehr aufweist, dem Panoramatismus und der Panvektorialität verpflichtet ist. Das Potential zur Allschau war ja schon der Ur-Deesse mitgegeben worden, eine „visibilité panoramique“, wie es ein zeitgenössischer Kommentar formulierte.21 Um Fortschritt und Freiheit nicht zweckrational verkümmern zu lassen und der Tristesse automatisierter, maschineller Handlungsformen entgegenzutreten, schlägt Mallarmé am Ende seines Texts eine Kommission vor, die mit Künstlern und Schriftstellern besetzt werden sollte. Diese Spezialisten für Modernität und Ästhetik haben die Aufgabe, der Hässlichkeit, die durch niedere Nützlichkeit in die Welt gebracht wird, entgegenzutreten. Allein technische Innovation und funktionale Gestaltung, so die implizite Botschaft, erreichen nicht die Höhe eines kultivierten Zeitgeists. Erst im ästhetischen Gebrauch entfaltet sich kultureller Fortschritt.

Fußnoten
1 Le salon de l’automobile (7. Oktober 1955), in: http://www.ina.fr/video/AFE85006400/le-salon-de-l-automobile-video.html.

2 http://archive.cardesignnews.com/news/2003/030815bertoni-exhibition/index2.html.

3 Roland Barthes: Der neue Citroën, in: Ders.: Mythen des Alltags, Berlin 2010, S. 196–198, hier: S. 196.

4 Ebda., S. 197.

5 Ebda., S. 196.

6 Das Foto wird heute noch in einem Video auf einer Webseite des Konzerns verwendet, auf der dieGeschichte des Unternehmens erzählt wird: http://www.citroen.de/home/#/historie/personenkraftwagen/.

7 Zum mythologischen Ursprung des Automobils siehe Jörg Jochen Berns: Himmelfahrten. Mutmaßungenzu Herkunft und Heimkehr des Automobils, in: Ders.: Die Jagd auf die Nymphe Echo, Bremen 2011, S.481–496.

8 Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus, in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus.Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 75–80, hier: S. 77. Marinetti bezieht sich auf die Statue der Siegesgöttin im Louvre, die den Moment ihres Landens nach einem Flug zeigt: http://de.wikipedia.org/wiki/Nike_von_Samothrake.

9 Zur Trennung von Ausdruckskonvention und Schönheit siehe Jacques Rancière: Aisthetis, Wien 2014, S.28ff.

10 Holland Cotter: Slicing a Car, Fusing Bicycles and Turning Ideas Into Art (13. Dezember 2009), in: http://www.nytimes.com/2009/12/14/arts/design/14orozco.html?pagewanted=all.

11 Richard Dorment: Gabriel Orozco, Tate Modern, review (17. Januar 2011), in: http://www.telegraph.co.uk/culture/art/art-reviews/8264987/Gabriel-Orozco-Tate-Modern-review.html.

12 Gabriel Orozco zit. n. Ann Temkin: Gabriel Orozco, Ausst. Kat., The Museum of Modern Art, New York2009, S. 86.

13 Monique Roelofs deutet die Arbeit – trotz ihres dekonstruktiven Gestus – sogar als Verfestigung des Mythos, den Barthes zu zerlegen versuchte: Monique Roelofs: The Cultural Promise of the Aesthetic, London 2014, S. 189–190.

14 Als Kontrastbeispiele sind die Autoobjekte von Erwin Wurm und Wolf Vostell zu nennen: Wurm deformiert das Fahrzeug, um absurde Nutzungsweisen denkbar zu machen; Vostell immobilisiert und zerstört es, um die Auto- und Medienkultur zu kritisieren.

15 Zit. n. http://en.wikipedia.org/wiki/Gabriel_Orozco.

16 http://amorphicrobotworks.org/works/ttm/index.htm.

17 Peter Sloterdijk: Das Zeug zur Macht – Bemerkungen zum Design als Modernisierung der Kompetenz, in: Ders.: Der ästhetische Imperativ, Hamburg 2007, S. 138–161, hier: S. 149.

18 Chico MacMurtrie hat sich zu Recht dagegen verwahrt, seine Installation mit den Figuren in den Transformer-Filmen zu verwechseln. Siehe Jürgen Pander: Citroën DS als Kunst: Die Göttin fährt wiederzum Himmel (28.07.2013), in: http://www.spiegel.de/auto/aktuell/automobiles-kunstwerk-citroen-ds-entfaltet-sich-zu-einem-totempfahl-a-912578.html.

19 Stéphane Mallarmé: „Sur le Beau et L’Utile“, in: Ders.: Œuvres Complètes, Paris 1945, S. 880. Englische Übersetzung: Rosemary Lloyd Hg.): Selected Letters of Stéphane Mallarmé, Chicago 1988, S. 211–212.

20 Jörg Jochen Berns: Die Herkunft des Automobils aus Himmelstrionfo und Höllenmaschine, Berlin 1996. Siehe dort auch die designkritischen Bemerkungen zum Citroën DS, S. 79ff.

21 https://www.youtube.com/watch?v=5z1xPFIh9_U.

Bildnachweise
1. http://www.enciclopediadellautomobile.com/it/i-1409-0/bertoni-flaminio/
2. http://storm.oldcarmanualproject.com/citroends1959.htm
3. http://www.nuancierds.fr/crepuscule.htm
4. http://www.citroenet.org.uk/passenger-cars/michelin/ds/18.html
5. http://www.nuancierds.fr/salon%2055.htm
6. http://amicale-citroen.de/2010/wdr-retrospektive-so-wars-55-jahre-citroen-ds/
7. https://www.youtube.com/watch?v=3vXL6Yx0hEs
8. https://www.youtube.com/watch?v=9Rx-2VFc8EQ
9. http://jacobmunkhammar.deviantart.com/art/Flying-Citroens-356187637
10. Foto: Gunnar Schmidt (Kunsthaus Bregenz, 2013)
11. http://amorphicrobotworks.org/works/ttm/index.htm
12. http://www.ora-ito.com

© Gunnar Schmidt, 2014