Edith Sitwell: Ein sehr hochgewachsener Vogel
1959 folgt die englische Fotojournalistin Jane Bown einem Auftrag, der sie in den Londoner Ladies Club führt. Sie fotografiert dort die englische Dichterin Edith Sitwell, die zu diesem Zeitpunkt 71 Jahre alt ist. Aus dieser Fotosession gehören inzwischen zwei Aufnahmen zum kanonisieren Œuvre dieser bekannten Fotografin. Die eine zeigt ein Porträt en profil. Das Antlitz der Dichterin leuchtet aus schwarzem Hintergrund scharf hervor; Sitwell hält die Augen geschlossen und das Gesicht wird von kräftigen, kontrastreichen Schatten gezeichnet. Die Fotografie stilisiert die Figur der Dichterin zum Inbild entrückter Geistigkeit. (Abb. 1)
Abb. 1. Jane Bown: Edith Sitwell, 1959
Die zweite Fotografie (Abb. 2) zeigt die Porträtierte in ausgeleuchteter Frontalansicht, das Gesicht ist ernst, der Blick regungslos auf die Kamera gerichtet. Diese Fotografie wäre nicht sonderlich eindringlich, würden nicht der glänzende voluminöse Schmuck, der panzerartig auf der Brust liegt, und die mit schweren Ringen geschmückten Hände, die wie nicht zugehörige Körperteile ins Bild dringen und dadurch eine merkliche Irritation ins Bild bringen. Das schmückende Beiwerk in seiner übertriebenen Aufdringlichkeit scheint mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als das verschlossen wirkende Gesicht. Diese Fotografie ist wie ein Widerspruch zur ersten, zum Image der träumerisch-melancholischen Weltabgewandtheit; nun scheint die Person zur Welt der Oberflächlichkeit zu gehören, in der Verkleidung und Glanz regieren. Diese Aufnahme ist seit 1981 Teil der bedeutenden Sammlung der National Portrait Gallery, die im selben Jahr eine Jane-Bown-Ausstellung veranstaltete.(1)
Abb. 2. Jane Bown: Edith Sitwell, 1959
Mit dieser kurzen Charakterisierung zweier Bilder wird lediglich in Sprache übersetzt, was wir sehen. Wir berühren damit auch die Undurchdringlichkeit, die ein Porträt vor der realen Person errichtet. Jedoch muss man weder der Illusion einer authentischen, enthüllenden Fotografie erliegen, von der wir wünschen, dass sie mit jedem einzelnen Bild die Wahrheit der dargestellten Person verkündet, noch muss man die Zuflucht zu einem bloßen Ästhetizismus nehmen. Das Porträt ist vielmehr in seiner Eingebundenheit im Netz zeitgenössischer Medienkonstellationen zu betrachten.
Als Annäherung ist auf eine Differenz aufmerksam zu machen: Die Fotografie der National Portrait Gallery ist die beschnittene Version des gleichen Bildes, das ursprünglich im Observer des Jahres 1959 veröffentlicht wurde.(2) Auch wurde Sitwell in der späteren Fassung senkrecht ins Bildfeld gebracht, wo sie in der Zeitung noch leicht nach links kippt. (Abb. 3)
Abb. 3. Jane Bown: Edith Sitwell, 1959
Jane Bown hatte das Foto für eine Artikelserie aufgenommen, die den Titel „My Clothes and I“ trug. Diese Artikelserie auf der Frauenseite, in der unbekannte Frauen und ihr Verhältnis zur Kleidung vorgestellt wurden, wurde mit der prominenten Sitwell abgeschlossen. Auf der unbeschnittenen Fotografie enthüllt sich nicht nur die unkonventionelle Pose, die in ihrer Gestelltheit offenkundig wird, auch sehen wir den extravaganten Hut in seiner skurrilen Pracht. Wir wissen nicht, was den Beschnitt und die Aufrichtung der Person motiviert hat, doch können wir vermuten, dass er dem Anliegen geschuldet war, dem Porträt eine Würde zu verleihen. Die Version im Observer ist nicht ohne unfreiwilliger Komik: Edith Sitwell erscheint wie in einer Charade begriffen, mit der ein bunter Vogel dargestellt werden soll: Die Arme wirken wie angelegte Flügel, der Kopfputz, den sie selbst „Vogelkönigshut“ nannte, imitiert aufgerichtete Federn, die große strenge Nase nimmt sich wie ein Schnabel aus. Dazu passt, dass sich Sitwell im Artikel einen „pfauenhaften Instinkt“ in Sachen Kleidung zuschreibt und sich in ihrer Autobiografie als hochgewachsenen Vogel charakterisiert.(3) Solche Aussagen hatten für die englische Leserschaft der 50er Jahre eine andere Bedeutung als für den heutigen deutschen Leser, dem diese Schriftstellerin wenig bekannt ist. Seit den 20er Jahren ist Sitwell in England eine bekannte Persönlichkeit, und sie ist dies nicht zuerst aufgrund ihrer Dichtung, sondern aufgrund ihrer Exzentrik. Zu dieser Exzentrik gehörte zum einen ihr Sinn für öffentliche Inszenierung, für Skandalsensibilität und Medienaffinität; zum anderen wusste sich Sitwell durch auffällige Antimode in Verbindung mit ihrer Physiognomie in Szene zu setzen. Von Kindheit an vernimmt Edith Sitwell immer wieder das Urteil ihrer weiblichen Unattraktivität aus der Umwelt. Sie lernt, daraus einen Vorteil zu entwickeln. 1956 schreibt sie selbstbewusst in einem Brief: „My face – awful though it may be – is the only one I have got, and is my copyright“.(4) Das Bewusstsein von der Macht der Stilisierung und davon, eine Marke zu sein, kommt auch in ihrer Kleidung und in ihrem Schmuck zum Ausdruck. Schon als junge Frau beginnt sie damit, sich in körperverhüllender Kleidung zu verbergen, die einerseits dem Image der „modernen Frau“, die ihre Erotik selbstbewusst ins Spiel bringt, offensiv entgegengestellt ist. Andererseits ist ihre Personalmode gekennzeichnet von augenfängerischen Brokatstoffen mit präraffaelitisch anmutenden Ornamenten sowie voluminösen Aquamarin- und Topaz-Ringen. Es gibt eine Vielzahl von Äußerungen ihrer Zeitgenossen, die vor allem diese exzentrischen Aspekte kommentieren. So wird sie mal als Königin, mal als Ameisenbär, dann als kunstvolle Madonna und als priesterliche Gestalt, Märtyrerskulptur und gotische Erscheinung, dann wieder als sauberer Hasenknochen oder Seevogel, der trostlos schreit, beschrieben.(5) Es ist eine Ironie wie auch eine Behauptung der Freiheit, dass gerade sie, die eigensinnig Stil gegen Mode setzt, auf der Frauenseite einer Wochenzeitung erscheint, die sie umgeben zeigt von Mode-Anzeigen (Abb. 4), in denen die normierte Frau der 50er Jahre als Kontrast aufgeboten wird.
Abb. 4. The Observer, 1959
Sitwells zum Teil riskanten Selbstinszenierung zwischen Lächerlichkeit und Stolz hat ein berühmter Fotograf in einer gelungenen Formulierung erfasst. Cecil Beaton sah in Sitwell „eine hochgewachsene anmutige Vogelscheuche mit den Händen einer mittelalterlichen Heiligen“.(6)
Mit dem Namen Beaton kommt eine weitere Schicht kultureller Bedeutsamkeit in den Horizont, vor dem die Fotografie Jane Bowns zu sehen ist. Zum einen weist Beaton implizit auf den nicht unwichtigen Umstand hin, dass Sitwell eine fetischartige Beziehung zu ihren Händen hatte. Diese partiale Selbstverliebtheit spricht nicht nur aus dem Portraätfoto Bowns, der Observer-Artikel endet bezeichnender Weise mit dem Zitat „My hands are my face“ und zeigt eine Detailaufnahme der Hände. Zum anderen verweist der Name Beaton auf die mediale Karriere Sitwells, die belangreich für die Signifikanz der Aufnahme Bowns ist. Am Anfang ihrer Medienprominenz steht der junge, noch unbekannte Cecil Beaton, der die Schriftstellerin 1926 kennenlernt und im selben Jahr die ersten stilbildenden Fotos von ihr macht. Bis in die 60er Jahre wird er die Freundin immer wieder fotografieren. In den ersten Sessions mit Beaton entdeckt Sitwell ihre Lust an der Performance, die der Fotograf durch gewagte Inszenierungen anregt. Der Wunsch, sich darzustellen, zeigt sich nicht nur in der Tatsache, dass Sitwell zum Teil sehr renommierten Malern, Zeichnern und Bildhauern als Modell diente, vor allem sind es neben Beaton eine Reihe namhafter Fotografen und Fotografinnen, darunter auch Koryphäen der Modefotografie, die diese asexuelle, priesterliche Frau ins Bild setzen: Horst P. Horst, Philippe Halsman, Louise Dahl-Wolfe, Bill Brandt, Baron Adolf de Meyer, George Platt Lynes, Sanford Roth, Dennis Stock, Maurice Beck und Helen MacGregor. Auf nicht wenigen dieser Aufnahmen inszeniert Sitwell ihre stets schwer beringten Hände oft nach konventionalisierten Schemata: Die Hand, die die Stirn trägt; die Hände, die das Gesicht verdecken oder sorgenhaft die Wangen berühren, die gebetsartig aufeinander liegen oder ein Buch halten. Diese theaterhaften Gesten sind eingeführte Zeichen, die den schwermütigen Menschen des Geistes symbolisieren sollen. Aufgrund dieser medialen Geschichte ist das Image der Dichterin längst gefestigt und Jane Bowns Foto, das aus der letzten Lebensphase Sitwells stammt, kann nicht unabhängig von dieser Vorprägung betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund erweist es sich jedoch gerade als eigenständig, weil es nicht dem Muster der Dichter-Ikonografie folgt. Bown übermittelt den Blick auf die Oberflächlichkeit der Inszenierung: Eine Frau zeigt ihren Schmuck – mehr scheint es nicht zu sagen. Man könnte glauben, dass die Zeitungsversion, gedruckt auf billigem Papier und umrahmt von trivialer Werbung, gegenüber der Hochglanzversion mit ihrer musealen Adelung an Aussagekraft verliert. Aber ist nicht das Gegenteil der Fall? Wo die Version der National Portrait Gallery noch eine Rettung der Dichter-Aura durch Stutzen der Flügel und Federn unternimmt, dort gewinnt die Presse-Version vor allem deshalb Dignität, weil sie das Klischee unterläuft.
(1) Die Ausstellung hatte den Titel The Gentle Eye. Siehe den Katalog The Gentle Eye. 120 Photographs by Jane Bown, introduction by Patrick O’Donovan, The Observer/Thames and Hudson 1980, Abb. 28. Das Porträt ist ebenfalls abgebildet im Katalog The Sitwells and the Arts of the 1920s and 1930s (herausgegeben von Joanna Skipwith, London 1996, S.152), der die ebenfalls von der National Portrait Gallery veranstalteten Ausstellung der Jahre 1994/95 dokumentiert.
(2) The Observer, May 10, 1959, p. 19. Eine weitere beschnittene Version, die der Observer-Veröffentlichung nahe kommt, befindet sich in Jane Bown: Women of Concequence, London 1986, Abb. 1. In dieser Version wurden der linke und rechte Rand nicht beschnitten, allerdings wurde – wie in der NPG-Version – der obere Rand beschnitten. Durch diese Bearbeitung entsteht ein Querformat.
(3) Edith Sitwell: Mein exzentrisches Leben, Frankfurt/M 1991, S. 101.
(4) Edith Sitwell: Selected Letters, edited by Richard Greene, London 1998, S. 383.
(5) Siehe Victoria Glendinning: Edith Sitwell, Frankfurt 1995.
(6) Zit. n. ebenda, S. 153.
Veröffentlicht in: Rundbrief Fotografie (Vol. 16, No. 1 / N.F. 61, März 2009), 3–4.
© Gunnar Schmidt