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Anamorphotische Körper: Vorwort
Wer
von der Macht der Bilder spricht, kennt die betörende Präsenz
des Dargestellten. Der Eindruck von Unmittelbarkeit und Gefügtheit
kann dem Betrachter die Sprache rauben. Was soll noch gesagt werden?
Jeder sieht doch, was ich sehe. Und steht nicht jedes Wort, das
über das Sichtbare hinausweist, im Risiko des Verfehlens.
Wie soll man vor dem Bild zur Sprache finden?
Diese Schwierigkeit gilt insbesondere für die Fotografie,
von der behauptet wurde, sie sei eine "Botschaft ohne Code"1 oder "Indiz des Realen"2. Die Distanz zwischen Referent
und Bild erscheint so gering, daß eine Deutung, die die
Kluft ermißt oder den Sinn zur Sache bringen will, kaum
nötig erscheint.
Wenn die Mehrzahl der hier versammelten Aufsätze das Medium
der Fotografie in der Medizin des 19. Jahrhunderts - genauer:
das Krankenporträt - verhandeln, dann sind andere Distanzen
als die zwischen Wirklichkeit und Zeichen zu überbrücken:
Es sind historische und wissenschaftstheoretische Entfernungen,
die ein Verständnis erschweren.
Neben Mikrofotografie, Fotogrammetrie, endoskopischer Fotografie,
Krankenhausfotografie, Präparatfotografie gewinnt in erster
Linie das Patientporträt mit der Entwicklung der modernen
wissenschaftlichen Medizin eine bis dahin nicht gekannte Bedeutung.
Dabei ist der quantitative Zuwachs nur der offensichtliche Aspekt
des Wandels. Auch die Funktion von Bildern wird neu bestimmt.
Mit der Flut der Bilder und den neuen Möglichkeiten der Herstellung
werden Fragen nach Darstellung und Darstellbarkeit aufgeworfen.
Nicht nur bei Künstlern und Kunstkritikern, sondern auch
bei Wissenschaftlern ensteht ein Argumentationsbedarf. Man fragt:
"Was vermag ein Bild, was sind die Möglichkeiten der unterschiedlichen
Medientechniken, wo liegen die Grenzen der Repräsentation?"
Nähert man sich heute, aus historischer Distanz, der medizinischen
Bilderwelt, hat man es mit mehr als dieser rekonstruierbaren Diskussion
zu tun. Der semantische Reichtum übersteigt die Ebene bewußter
Bildplanung.
Um die Sinndichte des vorgestellten historischen Bildmaterials
aufzufalten, wird in einem zweifachen Schritt auf die Kontexte
medizinischer und anthropologischer Wissensproduktion Rekurs genommen.
Die erste Stufe der Semantisierung entspringt dem Sachgebrauch:
erfassen, darstellen, vergleichen, kommunizieren. Die Bildleistung
scheint auf den ersten Blick gänzlich medial definiert, eigensinnig
dem ästhetischen Artefakt eingegeben zu sein: Ein Foto vermag
anderes als ein Gemälde, ein Film anderes als ein Foto usf.
Es ist aber der sich verändernde symbolische Repräsentationsbedarf
der Wissenschaften, der die Bildleistung je mitdefiniert und die
Bildfunktion festlegt. Die zweite Stufe: Über diesen unmittelbar
pragmatischen Zusammenhang hinaus werden die Wirkungen jenes Netzes
von Anschauungen untersucht, aus denen sich die Ordnung einer
Wissensform speist und durch das es mit anderen Wissens- oder
symbolischen Formen vernüpft ist. Für das medizinische
Feld heißt das: Es spannt sich über die spezifische
Darstellung des Objekts Körper ein ganzer Horizont
von Vorstellungen, die um die Begriffe Krankheit/Gesundheit, Häßlichkeit/Schönheit,
Anormalität/Normalität, Tod/Leben kreisen. Letztlich,
und dies war eine anthropologische Beunruhigung im Zeitlalter
Darwins, ging es um die Frage nach den Grenzen des Menschen.
Die Fundamentalfragen wurden nicht allein auf dem wissenschaftlichen
Feld diskutiert. Die epistemische Strukturierung des Wissens zeigte
Auswirkungen auch im gesellschaftlichen Bewußtsein. Literarische
Texte können Auskunft geben über die imaginären
Wirkungen sich wandelnder Menschenbilder. Methodisch fungieren
literarische Erzählungen, Romane und Reiseschilderungen innerhalb
meiner Untersuchungen als Quellen, aus denen sich die Effekte
der neuen Anthropologie auf die Imagination ablesen lassen. Die
Konfrontation wissenschaftlich-ikonographischer Werke mit literarischen
Bildern hat zum Ziel, den kulturellen Intertext freizulegen. Wissenschaft
und Literatur stehen einander gegenüber, ergänzen sich,
deuten (auf) einander. In diesem Sinne sind die vorliegenden Texte
Beiträge zu einer "Kulturwissenschaft der Zwischenräume"3.
Der Titel des Buches - Anamorphotische Körper - mag
auf ersten Blick unpassend, ja abwegig erscheinen, denn die Anamorphose
gehört ganz dem Bereich der Kunst und des optischen Spiels
an. Es gibt allerdings ein doppeltes Motiv, das die metaphorische
Verwendung rechtfertig:
In der Anamorphose wird ein Gegenstand verzerrt, er wird deformiert.
Die Umwandlung geschieht dabei nach bestimmten Regeln. Kein willkürliches,
wildes Zerdehnen, sondern kontrollierte Perspektivenverschiebung.
Die Anamorphose ist eine Mißgestalt. Das macht sie interessant.
Das Abgebildete ist ein Rätsel für denjenigen, der die
Regel der Entstellung nicht kennt. Man muß nach dem richtigen
Standpunkt oder nach dem entzerrenden Anamorphot, dem rechtbrechenden
Spiegel suchen, durch den das Objekt (wieder-)erkennbar wird.
Die Anamorphose ist Widerspiegelung und Entstellung in einem.4
Anamorphotische Körper - die Aspekte der Verzerrung und der
Methode der Entzerrung sind in diesem Titel angesprochen. Die
Anamorphose ist ein Sinnbild für die Kopplung von Wissenschaft
und Ästhetik, für die Relation von Erkenntnis und Anschauung.
Der hier anvisierte Untersuchungsgegenstand - Körperbilder
und medizinische Wissenschaft - ist damit gut charakterisiert:
1. Die Begriffe des Monsters und des Monströsen spielen in
der Medizin und Literatur des 19. Jahrhunderts eine nicht unerhebliche
Rolle. In den medizinischen und literarischen Bildern begegnen
wir einer weitgehend verschollene Welt der Monstration: aufquellende
Leiber, verwachsene Gliedmaßen, Wucherungen der furchtbaren
Art, entstellte Leiber, Freaks. Das sind die anamorphotischen
Körper. Vor allem die ikonographische Klinik ist ein Wunderland
unglaublicher Körpergestalten, in dem das pathologische Wachstum
sich im Extrem zeigen darf. 2. Was wie entregelt auftritt, wird
von der Medizin des 19. Jahrhundert betrachtet, um daran zu erforschen,
was das Gesetz des Menschen ist. Das Monster wirft die Frage der
Methode auf, mit der es erkannt werden kann. An den Pathologien
entwickeln sich die "Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin"5.
Wer die Macht der Bilder zu begreifen sucht, wird nicht umhin
können, auch ihr Schweigen und ihre Kraft zur Beschneidung
zu benennen. Die Behauptung, daß die Fotografie zeige, was
vorfindlich sei, ist so richtig wie problemhaft. Kritik provoziert
dieser Allgemeinplatz nicht in erster Linie, weil darin die inszenatorische
Qualität, die jedem Foto eigen ist, unterschlagen wird, sondern
weil sich eine Wirklichkeitsauffassung aussagt, die aus der Realität
eine Ansammlung stillgestellter Sachen macht. Hinter jedem Bild
verbirgt sich jedoch das unendliche Schattenreich nicht erfaßter
und nicht erfaßbarer Ereignisse. Zwar muß, wer Wissen
produzieren will, auswählen und strukturieren. Aber die Auslassung,
die das Unwichtige treffen soll, ist in Fällen nichts anderes
als eine Verleugnung. Daß in der medizinischen Praxis die
dunklen, gewaltätigen Seiten durch den gezielten Einsatz
von Fotografien ausgeblendet wurden, kommt in diesem Buch zur
Sprache.
Das Buch schließt mit zwei Texten, die das Gebiet jenseits
der Körpermedizin betreffen: Hypnose, Psychoanalyse, Strahlenwissenschaft.
Am Ende des 19. Jahrhunderts kündigt sich eine neue episteme
an, aus der andere Bilder vom Menschen ent-stehen. Wird damit
die realistische zentralperspektivische Ikonographie obsolet?
Statt Paradigmenkonkurrenz vervielfältigen sich die Räumlichkeiten.
Neben die Organologie mit ihren sichtbaren Oberflächen tritt
eine Topologie der Ströme und der psychischen Orte.
Die hier vorgelegten historischen Exkursionen in die Bilderwelt
des vorigen Jahrhunderts sind ein Beitrag zur Rekonstruktion der
beginnenden medikalen Medienkultur. Wer heute die sich überstürzenden
Entwicklungen auf dem Feld der medizinischen Bildgenerierung betrachtet,
wird in den Bildern des 19. Jahrhunderts einer skurril anmutenden,
wissenschaftlichen Vorzeit begegnen. Längst hat eine neue
Epoche begonnen: Der Körper wird nicht mehr nur abgebildet,
er wird auf durchgreifende Weise medialisiert. Gewinn, Verlust,
Fortschritt? Diese schwierige Frage wird nicht ausführlich
in den Beiträgen diskutiert. Wo sich mir ein Anschluß
an die Gegenwart aufgedrängt hat, habe ich Hinweise und Andeutungen
eingestreut, Verbindungslinien gezogen. Damit soll die Diskussion
über das angeregt werden, was mit dem Menschen in der medizinisch-wissenschaftlichen
Kultur geschieht.
1 Roland Barthes, "The Photographic Message", in: ders., Image
Music Text, London 1982, 17.
2 Michel Frizot, "Das absolute Auge", in: ders. (Hg.), Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, 274.
3 Siehe dazu "Für eine Kulturwissenschaft der
Zwischenräume”, in: Marianne Schuller, Claudia Reiche, Gunnar
Schmidt, BildKörper, Hamburg 1998, 7-17.
4 Siehe Roland Barthes, Kritik und Wahrheit,
Frankfurt/M. 1980, 76.
5 Ich zitiere hier den Titel des programmatischen Aufsatzes
von Rudolf Virchow, "Ueber die Standpunkte in der wissenchaftlichen
Medicin", in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie,
1 (1847), 3.
©
Gunnar Schmidt
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