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Interfaces
Was
ist der Körper ein Zeichenuniversum, eine Zeichenmaschine,
eine Leinwand, eine Wachsmasse, eine Festplatte? Er erzeugt, er
kleidet sich ein, er bezeugt Spuren, er (wird) maskiert. Auf einen
Blick haben wir es zu tun mit Enthüllungen und Verschleierungen.
Das ist keine Paradoxie, sondern dem Doppelcharakter des Zeichens
geschuldet. Das Zeichen zeigt und verweist immer auf ein Anderes,
das irgendwo anders ist. Diese Abtrennung mit der damit eingesetzten
unausgemessenen Distanz zum Zeichen-Anderen konturiert die Erkenntnisfrage:
Wie ist das Verhältnis von außen/innen, sichtbar/unsichtbar,
Ausdruck/Sein zu erkunden und zu beschreiben? Wenn der Körper
in heutiger Terminologie gesprochen als Medium mit
Screen, Datenbank und Programm konzipiert wird, dann braucht es
Erkenntnisprozeduren, die die Beziehung zwischen Oberfläche
und Reservoir erklären.
Dabei
ist nicht zu übersehen, dass der Körper mindestens zwei
Semantiken kennt, die sich im Zeichen-im-Leib und Zeichen-am-Leib
realisieren.
1.
Das Zeichen-im-Leib: Ein Muskel zuckt, die Haut errötet,
ein Blick beseelt das Antlitz, eine Bewegung, ein Tic zeigen sich
an, das Herz krampft sich zusammen, die Stimme zittert. Und so
fort. Es geschieht etwas, der Körper zeichnet, zeichnet aus.
Ein Körperbild zeigt sich, zeigt an. Fragen: Was ist die
Sinnfälligkeit daran? Wer ist imstande, sie auszusagen? Gibt
es die Leerstelle, die "Wüste"1, die Stelle im
Körper ohne Körperlichkeit, ohne Seele, ohne Bezeichnung?
Kann der Körper nichtssagend sein? Oder ist er dazu ausgestellt,
beständig Auskunft zu geben? Soviel scheint sicher: Es entsteht
eine Topographie der Erregungen ohne gesicherte Ursache.
2.
Das Zeichen-am-Leib: Schminke, Schmuck, Tätowierung, Piercing,
Branding, Transformations- und Schönheitsoperation, Bodybuilding,
Therapie und Training. Kulturellen Körperpraktiken verschreiben ebenfalls Orte. Diese andere Topographie funktioniert in einem
Kontext, wo es die Gewissheit des Wahrgenommenwerdens gibt. Ich stellt sich in einen Spiegelsaal.
Es
lassen sich also Unterscheidungen treffen. Der Mangel daran ist,
das sie zu übergroßer Schärfe verleiten: Leicht
wäre es, dem Zeichen-im-Leib die Kategorien Natur, Spontaneität,
Unwillkürlichkeit, Authentizität zuzuschreiben, während
die Oppositionsterme Kultur, Kalkül, Willkür, Verstellung
dem Zeichen-am-Leib zugehörten.
Die
Zeichenformen reagieren aufeinander, überlagern und durchformen
sich. Wenn es um den Ausdruck geht, werden wir immer zur libidinösen,
ängstlichen, sterblichen Person geführt.
Der
analytische Fremdblick und die kritische Selbstbeobachtung generieren
einen Bedeutungskörper, der zerteilt ist in Regionen, Wege,
Grenzen, Zonen. Der Leib ist ein Patchwork aus Signifikationsorten.
Die
hier im Abriss aufgebrachten Fragen, Behauptungen und Unterscheidungen
kommen aus einem historischen Raum, in dem sich eine ausgreifende
Semio- und Deutungskultur ausgebildet hat. Die Körperkonzepte
seien sie dem Automaten, der Maschine, dem Verbrennungsmotor,
der elektrischen Anlage oder dem digitalen Rechner entlehnt
kommen nicht umhin, die Verzeichnung der Person zu theoretisieren.
Worum geht es in diesen Theorien? Deutungswahn, Deutungsnötigung,
Deutungskunst, Deutungswissenschaft?
Die
Semio-Kultur entwickelt eine Wachsamkeit dem Körper gegenüber,
die sich unversehens in eine Überwachung verwandeln kann.
Aber ob Verstehen oder Beherrschung es müssen Benennungen
gefunden werden, die die Gesten, Haltungen, Gebärden, Blicke,
physiologischen Reaktionen sinnhaft werden lassen. Um zu sagen,
was die Sinnemanationen des Körpers sind, sprach man von
Signalen, Zeichen, Hieroglyphen, Monogrammen, Wörtern, Signifikanten,
Symptomen, Wappen, Codes, Botschaften, Sprachen. Konkurrierende
Semiologien haben den Körper umstellt oder hervorgebracht,
um ihn in seinem hybriden Sein zwischen Natur und Kultur, Ich-Beherrschbarkeit
und unwillkürlicher Leidenschaftlichkeit, Bewusstsein und
Unbewusstem, Sprachlichkeit und physiologischer Selbstregulierung
zu definieren. Der Körper oder der Leib, das Ding oder das
mit Wesen ausgestattete Sein: Es gibt kaum eine Disziplin, die
nicht angetreten ist, um zur Lösung dieses Problems etwas
beizutragen. In der Geschichte haben die Disziplinen Allianzen
gebildet, haben sich getrennt oder ausdifferenziert, um zum Begriff
und zum Bild zu kommen: Philosophie, Anthropologie, Pädagogik,
die medizinischen Fächer von der Physiologie über die
Anatomie bis zur Psychiatrie, Psychologie und Parapsychologie,
Ethologie, Literatur, Kunst. Es gibt keine Exklusivität.
Im
Wechselspiel der Zugriffe und epistemischen Disziplinierung,
über das noch genauer zu sprechen sein wird, vollzieht sich
eine spezifische Objektwahl. Denn nicht jede Einzelheit des Körpers
erfährt die gleiche Aufmerksamkeit. So schreibt Johann Jakob
Engel im 18. Jahrhundert: "Die Seele hat über alle Muskeln
desselben Gewalt, und wirkt, bei vielen ihrer Bewegungen und Leidenschaften,
in alle. An einem Laokoon [...] spricht jedes Glied, jede
Muskel. Aber theils ist in einigen Gliedern gegen andre gerechnet,
der Ausdruck zu schwach, als daß er leicht bemerkt werden
sollte; theils sind auch viele zu bedeckt, als daß er leicht
bemerkt werden könnte." Diesen Sachverhalt notierend,
kommt ein Objekt in den Fokus, das besonders strahlt. Ein pathetisches Organ zeigt sich an: das Gesicht. "Vorzüglich
dient das Gesicht zu den Gebehrden [...]. Die sprechendsten
Teile sind: Auge, Augenbraune, Stirne, Mund, Nase."2
Vorzüglich:
das Gesicht. Was hat es mit diesem Sprechen, dieser Sprache des
Gesichts auf sich, die zu der verbalen Sprache in einer spannungsvollen
Beziehung steht? Ist sie die Protosprache oder die Sprache des
unverstellten Gefühls oder die universelle Natursprache oder
das Sediment vergessener, menschenvorzeitlicher Kommunikationsformen?
Diese unterschiedlichen, jeweils geschichtlich zu verortenden
Vorstellungen fügen sich in die makrohistorische These, wonach
in unserer Kultur ein Bedürfnis besteht, "Gesicht zu
produzieren"3. Foucault spricht von der "Suche nach
dem Gesicht", deren Matrix seiner Ansicht nach im 17. Jahrhundert
gebildet wurde.4
Wir
leben in einer "facialen Gesellschaft"5. Das Gesicht
wird zum Sprechen gebracht, um daran zu wissen, wen ich vor mir
habe. Zwischen Überlieferung, Protowissenschaft und Wissenschaft,
zwischen Kunstauspägung und Alltagsverständnis öffnet
sich ein historisches Terrain wechselhafter Anliegen, die aber
alle dem Gesicht ein enormes semantisches Gewicht verleihen. Von
der Physiognomik bis zur heutigen computergerechneten facial
analysis, recognition und simulation
wir leben in einem geschichtsgesättigten Hallraum von Gewissheiten,
Mythen und Modellen, Deutungsspekulationen und Signifikationen,
kurz, in einem Gewirr von Sinninterferenzen, die zur Interpretation
des Gesichts zwingen und sie gleichzeitig erschweren. Charakter,
Wesen, Emotionen, Empfindung, Affekte, Leidenschaften, Krankheiten,
Psychopathologien, Gedanken all das wollte und will man
aus dem Gesicht ablesen. Was seit dem 18. Jahrhundert "Menschenkenntnis"
genannt wird, erzwingt beim Kenner die Haltung des Detektivs und
Spurenlesers.
Sherlock
Holmes: "The features are given to man as the means by which
he shall express his emotions, and yours are faithful servants." Watson:
"Do you mean to say that you read my train of thoughts from
my features?" "Your features, and especially your eyes."6
Damit
ist das Thema angespielt, das in den folgenden Ausführungen
aufgegriffen und in einigen Aspekten seiner historischen Schichtung
analysiert wird. Gemeint ist das Leib-Seele-Problem. Dieser großräumige
Komplex wurde nicht zuletzt am Objekt Gesicht erörtert.
Den "Ausdruck der Gemüthsbewegung", wie eine Formulierung
aus dem 18./19. Jahrhundert lautet, suchte man im Gesicht zu dechiffrieren.
Was im Alltag auf unbefragtem Selbstverständnis fußen
mochte, wurde zunehmend zu einem Anliegen der Systematiker. Einteilungen,
Erklärungen, Forschungssettings wurden entwickelt, um die
Wandlungsmächtigkeit des Körpers durch die Seele zur
Repräsentation zu bringen. Dazu bedurfte es auch der Bilder.
Der
ikono-mediale Aspekt ist in der Geschichte der Gesichtsproduktion
und -suche unübersehbar und erfüllt unterschiedliche
strategische Funktionen. Bilder sind Interfaces zwischen
Wahrnehmung und Erkenntnis, zwischen Aufnahme und Rückprojektion
auf die Referenz Gesicht: Abbilder, Vorbilder, Typologien,
Schemata. Forscher sammeln, manipulieren und stellen Bilder her.
Ihr Ziel ist es, das Wissen in ikonografische Form zu bringen.
Bei der Vielfältigkeit der Medien (Plastik, Malerei, Grafik,
Fotografie) und Anliegen nimmt es nicht Wunder, dass es eine Art
Mediendebatte innerhalb der Gesichtsforschung gibt. Man fragt:
Was ist die richtige oder falsche Darstellung, was die wahrhaftige
Repräsentation, welches Medium vermag welches Anliegen in
die Darstellung zu bringen, was unterscheidet das Bild des Künstlers
von dem des Wissenschaftlers?
Die
Kontroverse der Mediologen nachzuzeichen, ist ein eher untergeordnetes
Anliegen. Der Schwerpunkt liegt bei der Analyse der Fotografie,
die die klassischen Kunstformen so erfolgreich bedroht hat, um
ihren Weg zur Wissenschaft zu bahnen.
Der
amerikanische Schriftsteller Nathaniel Hawthorne hat im Moment
des geschichtlichen Übergangs literarische Szenen erfunden,
die eindringlich auf das neues Bildethos in der Fotografie verweisen
und die Wirkungen auf die Körperdarstellungen angedeutet.
In
seiner Erzählung "Ethan Brand" aus dem Jahre 1850
baut er die Episode vom reisenden Dioramavorführer ein, der
mit dem Unterhaltungsmedium die Jugend eines Dorfes zu unterhalten
sucht. Die gemalten Bilder, die durch eine Linse betrachten und
vom Licht illuminiert werden, sowie die ungeschickten Erzählungen
des Vorführer können allerdings nur kurz die Aufmerksamkeit
erregen. Als weitere Attraktion bittet er daher einen Jungen,
seinen Kopf in die Box zu stecken. Es entsteht ein lebendes Bild:
"Viewed through the magnifying glasses, the boys round,
rosy visage assumed the strangest imaginable aspect of an immense
Titanic child, the mouth grinning broadly, and the eyes and every
other feature overflowing with fun at the joke. Suddenly, however,
that merry face turned pale, and its expression changed to horror
[...]."7
Das
Diorama wird zweckentfremdet, wodurch der Medienwechsel zur Fotografie
initiiert wird. Signifikant ist der Austausch des gemalten Dioramabildes
durch den Körper, der, an die Stelle des Bildes gerückt,
zum Quasi-Bild wird. Die Transformation durch mediale Distanzierung,
Rahmung und Belichtung erzeugt eine lebensechte, realistische
Hypergenauigkeit. Die mikroskopisch-protofotografische Linse schärft
den Blick für den natürlichen Sachverhalt. Unter der
Hand verwandelt sich Unterhaltung in Erkenntnis, Kunst in Wissenschaft
vom Menschen, der Akt des Porträtierens in ein Experiment.
Der Nutzer des Dioramas könnte mit den Worten des Fotografen
ausrufen: "Ich habe es im Kasten!" Aber noch ist das
Diorama keine Aufnahmeapparatur, es kann das bildgewordene Gesicht
nicht festhalten, fixieren.
Die
Wirkungen der Fixierung beschreibt Hawthorne im Roman The House
of the Seven Gables, der ein Jahr nach Veröffentlichung
der Erzählung erscheint. Dieser Text, kreisend um das Motiv
des Gesichts, seiner Lesbarkeit und Signifikationsmächtigkeit,
thematisiert neben Tafelbild und Miniatur auch die Fotografie.
In einem kurzen medientheoretischen Disput zwischen Phoebe, einer
jungen Frau, und Holgrave, einem Daguerreotypisten, werden die
grundlegenden Fragen aufgeworfen, die die Epoche bewegt haben.
Als der Fotograf Phoebe fragt, ob sie ein Beispiel seiner Produktion
sehen möchte, antwortet sie wie mit einer Stimme aus einer
Zeit, die im Vergehen ist:
"I
dont much like pictures of that sort they are so
hard and stern; besides dodging away from the eye, and trying
to escape altogether. They are conscious of looking very unamiable,
I suppose, and therefore hate to be seen.""If you would
permit me," said the artist, looking at Phoebe, "I should
like to try whether the daguerreotype can bring out disagreeable
traits on a perfectly amiable face. But there certainly is truth
in what you have said. Most of my likenesses do look unamiable;
but the very sufficient reason, I fancy, is, because the originals
are so. There is a wonderful insight in heavens broad and
simple sunshine. While we give it credit only for dipicting the
merest surface, it actually brings out the secret character with
a truth that no painter would ever venture upon, even could he
detect it. There is at least no flattery in my humble line of
art. Now, there is a likeness which I have taken, over and over
again, and still with no better result. [...] the remarkable point
is, that the original wears, to the worlds eye and,
for aught I know, to his most intimate friends an exceedingly
pleasant countenance, indicative of benevolence, openness, of
heart, sunny good humor, and other praiseworthy qualities of that
cast. The sun, as you see, tells quite another story, and will
not be coaxed out of it, after half-a-dozen patient attempts on
my part. Here we have the man, sly, subtle, hard, imperious, and,
withal, cold as ice."8
In
dieser kurzen Passage wird nicht weniger als das Verhältnis
von ästhetischer Wahrnehmung und Wahrheit, von Objektwahl
und Erkenntnisinteresse, Wirklichkeit und medialer Umgestaltung
des Objekts, Gestaltungswille und medientechnischem Eigensinn
angesprochen. Durch die unheimliche Überhöhung der Kapazität
des technischen Mediums Fotografie gelingt es dem Autor, eine
zeitgenössische Problematik zu fokussieren. Als Frage formuliert:
Wie ist das Verhältnis von Gesichtszeichen, Bildgebung und
Erkenntnis einzurichten? Der Auftritt der Fotografie auf der historischen
Bühne bringt einen Bewusstwerdungsschub mit sich, der generell
die Prinzipien der Bildgebung betrifft und auf die Vor- und Nachgeschichte
der Medienbenutzung überspringt. Durch die neuen Qualitäten
differenzieren sich die epistemischen und ästhetischen Haltungen,
die dazugehörigen Bildgestaltungen und die Einstellung zum
Körper. Den historischen Übergang, den Hawthorne an
einer bestimmten Stelle literarische erfasst, gilt es am Material
der Leidenschaftsdarstellungen zu beschreiben.
Den
Erkenntnis- und Formierungsprozess im historischen Durchgang unter
Anleitung der genannten Begriffe zu betrachten, bedeutet allerdings
auch, sich mit einem Hindernis zu konfrontieren. Denn ich gehöre
ja ebenfalls zur Kultur des Gesichts. Die Beschäftigung mit
dem Bild zerteilt mich als Betrachter.
Zunächst
sehe ich, lese, stelle mir vor: Gesichter, Antlitze, Masken, Grimassen,
Physiognomien, Anatomien, Falten, Blicke. Das Dargestellte drängt sich mir auf und ich erkenne, was ich zu kennen glaube:
das Erschrecken, die gesetzte Miene, Faxen, Unglück, Heiterkeit,
Schönheit usw. Eine virtuell unendliche Reihe von scheinbar
selbstverständlich gegebenen Bedeutungen entsteht vor mir.
Die
Illusionsmächtigkeit des Bildes verbirgt dabei nicht, dass
ich es mit Porträts, mit Gestaltungen zu tun habe. Die Darstellungen des Gesichts haben selber ein Gesicht: eine Prägung,
die zu deuten, ich aufgerufen bin. Ich suche nach den Aussagen
und Intentionen, nach den Wirkungen der Forschungsprogramme und
ästhetischer Voreingenommenheiten. Diese sind nicht selbstverständlich
übersetzbar. Ich habe es mit einem Autor zu tun, der Gesichter
macht. Nicht das dargestellte Gesicht, sondern dieser Autor, dieses Gesicht der Darstellung wird mich interessieren.
Wer
sich mit den Leidenschaftsdarstellungen befasst, kommt nicht umhin,
Aby Warburg zu erwähnen, der seine Forschungen auf eine Stilgeschichte
des gestischen Menschen von der Antike bis ins 20. Jahrhundert
ausgerichtet hatte. Es dürfte aber bereits deutlich geworden
sein, dass diese evolutionäre Kulturwissenschaft nicht das
Erkenntnisgerüst vorgibt. Warburg ordnete die von ihm gesammelten
Bildmassen, um "Pathosformeln" zu ergründen, die
als eigensinniges, kanonisches und ritualisiertes Medium der Verständigung
und Aktualisierung von engrammierten Erfahrungen gedeutet wurden.
Das je Zeitgenössische mit seinen Differenzierungsmodalitäten
führt er auf ein "Inventar nachweisbarer Vorprägungen"
zurück.9 Warburg wahrt die Nähe zu den wissenschaftlichen
Autoren des 19. Jahrhunderts, die bei ihrer Behandlung der Leidenschaftsdarstellungen
ebenfalls auf der Suche nach den Grundmustern sind. Wenn auch
die theoretischen Vorgaben andere sind als bei Warburg, arbeiten
auch sie zum Teil mit Bildmedien, in denen, wie Charcot/Richer
es formuliert haben, unter der "vorgeblichen Beziehungslosigkeit
der Zeichen" doch "die geheime Ordnung" zu finden
sei.10
Dagegen
möchte ich die unterschwellig ablaufenden epistemischen und
ästhetischen Neusortierungen hervorheben. Es geht nicht um
die Festlegung eines Ursprungs, der Fort- und Schlusssetzungen,
vielmehr sind Risse zu konstatieren, die in der Folge das Denken
und Zeigen von Bildern verändert und die diskursiven Formationen
vermehrt haben. Schon am Wandel der Begriffsprägungen lassen
sich inhaltliche Verschiebungen ablesen. Die Erforschung der Mienensprache
wurde Pathomyotomie (Bulwer), Metoposkopie (Parsons), Pathognomik
(Lichtenberg), psychische Physiologie (Hegel), Cinéséologie
(Gratiolet), Mechanik der Physiognomik (Meynert) und Psychophysiologie
(Vierodt) genannt. Obwohl die Diskurse sich immer um die selbe
Sache zu drehen scheinen, werden doch stets neue Objekte hervorgebracht. Ausdruck, Physis, Psyche und Subjekt werden je
neu konstelliert und begründet. Die Ereignisse der einzelnen
Diskurse bringen immer andere Gesichter zum Vorschein.
Vor
allem die Scheidelinie zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert markiert
in der neueren Geschichte der Gesichterproduktion einen inhaltlichen
Bruch in den Anschauungsweisen. An dieser Bruchstelle wird meine
Untersuchung ansetzen. Das Jahrhundert der beginnenden modernen
Medizin nimmt den Menschen anders in den Blick als die Ästhetiker
und Philosophen der Epoche der Aufklärung: neue Erkenntnisparadigmen,
andere Abbildungsmodi, veränderte Menschenbilder gewinnen
an Bedeutung.
Zur
Einstimmung auf diesen Komplex möchte ich ein Gemälde
aufstellen, das im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden
ist. An ihm lassen sich einige der genannten Aspekte anschaulich
machen.
Louis-Léopold
Boilly (1761-1845) gehört nicht zur ersten Garde der Maler
seiner Zeit. Aber er ist erfolgreich und sehr fleißig. Er
bedient den Geschmack des Publikums: Er malt Genrebilder, häusliche
Szenen, trompe lils und Porträts.
Gleichsam manufakturell stellt er eine große Anzahl davon
her. Die Literatur schätzt die Zahl auf 4500 bis 5000.12

Louis-Léopold
Boilly, 1823-28
Die
Boillyschen Bilder zeigen die Spuren ihres Herstellungsmodus:
normiertes Format, normierte Posen, Alltagsmienen. Kein Raffinement,
doch perfektes Handwerk. Boilly malt eine Galerie der Bürger
und Adligen, die sich als Symbole ihres sozialen Status darstellen
(lassen). Dann, kurz vor dem Ende seiner Karriere komponiert er
ein Bild mit fünfunddreißig eng zusammengestellten
Köpfen. Alle Porträts zeigen einen extremen Gesichtsausdruck.
Die Figuren grimassieren. Es sind Fratzengesichter. Es ist, als
würde hervorbrechen, was in all den anderen Gemälden
verborgen geblieben ist. Verloren der Anstand, die physiognomische
Ewigkeit, der Sozialcharakter. Was nun hervortritt, ist nicht
sicher zu definieren: Gefühle, Leidenschaften, pathologische
Reflexe, Tics? Aufgegeben sind Selbstbeherrschung und der Wille
zur idealischen Schönheit. Die Gesichter in ihrer karikaturhaften
Verzerrung und Hässlichkeit stehen nicht ein als Identifikationsbilder.
Was sie zuerst zeigen, das sind die Bewegungsmöglichkeiten
des Gesichts.
Bewegungsphysiologische
Momente: Das Gemälde erzählt nichts, die Köpfe
stehen als vereinzelte in dieser artifiziellen Gruppe. Es ist
ein Tableau der Variationen. Man könnte darin die Darstellung
einer naturgeschichtlichen Sammlung mit Naturalia erkennen.
In
dieser Deutung verwiese das Gemälde auf das 18. Jahrhundert.
Das hat Berechtigung, wenn man in dem Bild die direkte Sinnlichkeit
der Sache, die Analyse eines konfusen Reichtums und die Repäsentierbarkeit
auszumachen glaubt.13
Boilly
steht aber auch schon woanders. Er produziert ein Bild, das voll
gestellt ist mit Gestalten, die nicht dem Kontext ästhetischer
und sozialer Normiertheit angehören. Der Maler hat den klassizistischen
Code verlassen. Und malt ein Bild der Momentaneität. Er hält
fest Bewegung, Spuren. Spuren von was? Natur, Unbewusstes,
Hyde?
Am
Ende des 19. Jahrhunderts produziert der finnische Künstler
Hugo Simberg ein eigenwilliges fotografisches Selbstporträt.
Wieder die Grimasse, die Ausstülpung von etwas, das die Person
aufrührt. Ein wirklicher oder ein gespielter Wahnsinn, Exzentrizität,
Schock?
Hugo Simberg, 1897
Zwei
Bilder, die das 19. Jahrhundert einrahmen. Was ist dazwischen?
Das wird das Thema sein. Vorwegnehmend ist dies zu sagen: Ein
anderer Wahrheitsbegriff deutet sich an, einer, der auf Enthüllung
und fort von der Kategorie der Idealität geht. Boillys Gemälde
entsteht exakt in dem historischen Augenblick, wo die Fotografie
erfunden wird (Nièpce), ein Bildmedium, das den Moment
und die Wirklichkeit, wie sie ist, ins Bild bringen soll. Und
es ist die Zeit, in der die Psychiatrie beginnt, Patientenbilder
herzustellen, die die unglücklichen und hässlichen Leidenschaften
zeigen. Die Blitze des Affekts, die bis dahin vornehmlich von
den Philosophen, den Kunst- und Theatertheoretikern besprochen
wurden, um sie zu kultivieren, werden zum Gegenstand der Medizin
und Anthropologie. Damit taucht auch eine neue Haltung auf, findet
ein Schritt von der Ästhetik zur Erkenntnis statt: Das Bild
verliert sein Status als Vorbild, als narratives Medium oder als
kunstsinnlicher Gegenstand, der Wohlgefallen erzeugen soll. Es
wird zum Entlarvungsinstrument.
1
Siehe Michel Serres, Die fünf Sinne, Frankfurt/M.,
1993, 20.
2 Johann Jakob Engel, Schriften. Ideen zu einer Mimik [1785/86],
Bd. 7, Berlin 1804, 70-71.
3 Gilles Deleuze, Claire Parnet, Dialoge, Frankfurt/M.
1980, 53. Siehe auch Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend
Plateaus, Berlin 1992, darin das Kapitel "Das Jahr Null
Die Erschaffung des Gesichts".
4 Michel Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte,
Berlin 1986, 25.
5 Siehe Ästhetik & Kommunikation: Medium Gesicht.
Die faciale Gesellschaft, 94/95 (1996).
6 Sir Arthur Conan Doyle, The Memoirs of Sherlock Holmes,
Penguin Books 1978, 160.
7 Nathaniel Hawthorne, "Ethan Brand", in: ders., Tales,
New York. London1987, 238-239.
8 Nathaniel, Hawthorne, The House of the Seven Gables,
Oxford, New York, 1991, 91-92.
9 Aby Warburg, "Einleitung zum Mnemosyne Atlas (1929)",
in: Ilsebill Barta-Fliedl, Christoph Geissmar-Brandi, Naoki Sato, Rhetorik der Leidenschaft. Zur Bildsprache der Kunst im Abendland,
Hamburg 1999, 225-228. Siehe auch Ernst H. Gombrich "Ritualized
Gesture and Expression in Art", in: ders., The Image and
the Eye, Oxford 1982, 63-77.
10 Jean-Martin Charcot, Paul Richer, Die Besessenen in der
Kunst [1887|, Göttingen 1988, 135.
11 Siehe Michel Foucault, Archäologie des Wissens,
Frankfurt/M. 1981, 50.
12 Siehe Susan L. Siegfried, The Art of Louis-Léopold
Boilly, New Haven, London 1995.
13 Ich beziehe mich hier auf Michel Foucault, Die Ordnung der
Dinge, Frankfurt/M. 1974, 175.
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