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Ab-räumen,
ver-orten
Was
ich Ihnen in den nächsten Minuten vortragen möchte,
ist durch und durch provisorisch, vorläufig und versuchend.
Das Thema ist groß, dickichthaft und voller theoretischer
Ungewissheiten. Dennoch will ich mich heranwagen und Ihnen ein
Allerlei zumuten aus Problemstellungen, diversen Objekten und
Begriffen. Das Unscharfe hat aber vielleicht auch seine Tugenden,
denn es bietet sich an für Anknüpfungen, Schärfungen
und Auffüllungen.
Worum
geht es mir? Ich möchte den ganz alltäglichen Sinn des
Wortes Ort zu einem Konzept aufwerten. Konzept heißt:
den Ort als kritische Kategorie, als (visionäres) Vorhaben,
als versteckte Realität und damit als Forschungs- und Gestaltungs-vorhaben
positionieren.Um Ihnen einsichtig zu machen, warum ich diesen
Begriff wähle, werde ich einen Umweg gehen, und in strukturalistischer
Manier zunächst den Oppositionsbegriff herausstellen. Wenn
ich als Gegenbegriff den des Raums wähle, dann mag
das zunächst erstaunen, werden doch Raum und Ort oft synonym
verwendet. Ich werde meine Begriffsopposition erläutern:
Es ist in letzter Zeit eine wahre Flut von Tagungen, Veröffentlichungen,
Kunstprojekten zu beobachten, die sich um die Frage des Raums
gruppieren. Längst spricht man nach dem linguistic,
iconic und performative turn vom spatial turn. Warum dies
so ist, scheint auf der Hand zu liegen: In unserer Jetzt-Moderne
ist der Raum problematisch geworden und provoziert zur Beschäftigung
damit; drei Aspekte möchte ich dazu nur aufzählen:
1.
Die umfassende Kulturifizierung des Raums macht aus ihm eine knapper
werdende Ressource, um die wirtschaftliche, kulturelle, militärische,
gesellschaftliche Interessen miteinander konkurrieren. Die Folge
ist eine Disziplinierung des Raums im doppelten Sinne:
als machttechnische Zurichtung und als Objekt des Wissens. Bereits
ein flüchtiger Blick ins Internet zeigt, dass dieses Objekt
Gegenstand einer Reihe von diversen Disziplinen ist: Architektur,
Stadt-, Landschafts- und Verkehrsplanung, Militärwissenschaft,
Geografie, Kunst, Soziologie, Designwissenschaft, Polizeiwesen.
2.
Von einer unüberhörbaren Kulturkritik werden die neuen
Medientechnologien als Vernichter des Raums beschrieben. Paradigmatisch
für diese Position steht Norbert Bolz, der die neuen Kommunikationsverhältnisse
als Instanz sieht, die dem Raumdenken den Boden entziehen. Er
schreibt: Die "elektromagnetischen Wellen haben den Raum so erobert,
dass er sich zugleich aufgelöst hat. [...] Territorialität
ist keine sinnvolle Sinngrenze mehr."1
3.
Die realen Geschwindigkeiten und Mobilisierungen arbeiten ebenfalls
an der Vernichtung des Raums der Bewohner wird zum Passagier:
Pendler, Touristen, Flüchtlinge, Wirtschaftsreisende, Migranten
überlassen sich mit Schiff, Flugzeug, PKW, Caravan, Zug,
Bus einem Milieu, das Virilio als "Nicht-Ort der Geschwindigkeit"2 bezeichnet. Zwischen Aufenthalt in Fortbewegungsmaschinen und
an temporären Ankunfts- sowie Abfahrtplätzen verliert
der Passgier seinen Haltepunkt, seine fixe Umraumung.
Bei
aller Krisendiagnose hat Raum als Kategorie einen enormen Vorteil:
man hat es mit etwas Fasslichem, Definierbarem zu tun, um das
sich historisch ein ganzes Diskursuniversum gebildet hat. Raum
ist eine topografische Gegebenheit, zu der man eine instrumentelle
Haltung beziehen kann, ja, man könnte sagen, zu der man sich
methodisch verhalten kann. Diese instrumentell-methodischen Verfasstheit
möchte ich im Blick behalten, denn hier zeichnet sich die
Differenz zum Ort-Begriff ab. Wenn Descartes in seiner Abhandlung
über die Methode das Bild vom Reisenden entwirft, der
sich im Wald verirrt hat, und ihm den schnurgeraden Weg ohne Abwege
empfiehlt, dann ist damit das Grundmodell des Durchmessens (oder
des Ermessens) und der Orientierung beschrieben.3 Er
hat den euklidischen, den quantitativen Raum im Sinn, ein Raum,
der nicht verführen oder einladen darf. Er ist sozusagen
ohne Ästhetik, ohne Lebendigkeit (ich komme auf diese Aspekte
noch zurück), ein Raum ohne Besonderheit, einer, in der der
Körper und die Kommunikation nicht stattfinden. Er wird als
reine Gegebenheit gesehen, abstrakt, offen für Technologie.
Lassen Sie mich an dieser Stelle zur Veranschaulichung des metrifizierten
Raums eine kurze Passage aus dem Feature "Der perfekte Krieg"
(2004) einspielen. Ich habe sie aus zwei Gründen ausgewählt:
An ihr wird drastisch deutlich wird, welche Implikationen dieses
operative Raumwissen beinhaltet, und sie zeigt den Einsatz anvancierter
Medientechnologie, die genau auf dieses Wissen aufsetzt und es
hervorbringt. Was in den nächsten fünf Minuten beschrieben
wird, ist die Funktionsweise der netzwerkzentrierten Kriegsführung.
|Vorführung|
Deutlich
wird, dass eine Kombination aus geografischem, technischem, designerischem
und informatorischem Wissen veranschlagt wird, um den Raum als
Bild, als Muster und als strategische Verhaltensgegebenheit zu
konzipieren. Kennen, eindringen, wieder nach Hause fahren. Man
könnte sagen, dass in dieser Strategie die Landschaft als
Wüste wahrgenommen wird. Michel Serres bezeichnet als Wüste
das, was keinen Widerstand zeigt, was als homogen wahrgenommen
wird und methodisch erschließbar ist.4 Der Raum
ist erschließbar durch und für die Rationalität.
Würde ich Orte wahrnehmen, angefüllt mit Lebendigkeit,
Störungen, Rauschen, Umwegen, Träumen, Sinn, ergo als
etwas, das nicht mehr in Information aufgeht, wäre das Darüber-Hinwegrasen
nicht mehr so einfach. Der Krieg, von dem hier die Rede ist, ist
sicherlich ein Spezialfall, doch zeigt er in Reinkultur ein Modell
instrumenteller Verfügung, das auch in zivilen Kontexten
greift: bei programmierten Produktionsstraßen, Navigationssystemen,
in Organisationen, in gerechneten Simulationen. Der Raum als Nicht-Ort
kann übersetzt werden in Repräsentationen, kann zu einer
Art verdinglichter Verwaltungssache gemacht werden.
Ich
möchte diese Form des Wissens und des Umgangs mit Raum nicht
per se diskreditieren, sie stellt zweifellos eine nicht mehr hintergehbare
Realität zivilisatorischer und aufgeklärter Entwicklung
dar. Mein Eingehen auf diese Modell ist dennoch kritisch, da es
auf Basis einer reduktiven Logik operiert und als herrschendes
Allmachtsparadigma sich aufwirft. Wie das Beispiel zeigt, verschmelzen
die scheinbar oppositionären Konzepte von vernichtetem Raum
qua Medialität einerseits und globalisierter Raumbeherrschung
miteinander. In dieser Logik werden das Singuläre, das Sinnliche,
das Nicht-Ökonomisierbare, lokale Eigensinnigkeiten, phatische
Interaktivität, Atmosphäre, Vertrautheit, die schwierigen
Übergänge zwischen Medium und Real-Welt kaum sichtbar.
Damit deutet sich der Gegenbegriff des Ortes an. Der Begriff ist
ungleich unschärfer, und er widersetzt sich dem Methodischen.
Vorläufig stelle ich die These auf, dass er zu begreifen
ist als das Sediment von symbolischen Ereignissen, die innerhalb
der Räume stattfinden (können). Nischen des Sinns, der
unwägbaren Kommunikation, der Selbsterschaffung, des Erzählens,
der Einschreibungen etc. Auf der Ebene der Theorie gesprochen
heißt das: Sofern Ort sich innerhalb der markierten Großtendenzen
einnistet dem schwindenden Raum einerseits sowie dem geopolitischen
Raum anderseits , kann er von den entsprechenden Raumtheorien
gar nicht in den Blick kommen. Insofern ist mit einer Theorie
des Ortes ein kritischer Einspruch gegenüber den dominanten
Theorien der medialen, ökonomischen und politischen Moderne
verbunden.
Um
mich langsam einer Art Proto-Theorie des Ortes zu nähern,
greife ich auf ein Beispiel aus der Literatur zurück. Ganz
bewusst wähle ich ein Stück historischer Literatur,
es stammt aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Ich tue dies, da
mit dem Konzept des Ortes eine historische Dimension verknüpft
ist, an die sich einige theroretische Probleme darstellen lassen.
Gleichzeitig bietet das Beispiel den Vorteil, es emblematisch
zu lesen.
Bei
dem Textausschnitt handelt es sich um das vorletzte Kapitel aus
Thomas Hardys Roman Tess of the DUrbervilles. Ein
Roman im übrigen, der das Durchwandern und Erleben, das Fremdwerden
in Räumen und Zwischenräumen thematisiert, der die Suche
nach dem Eigenen-Platz in einer sich modernisierenden Welt beschreibt.
Am Ende ihrer Wanderungen hat die Hauptfigur, Tess, einen Menschen
getötet, und ist mit ihrem Geliebten auf der Flucht. Sie
dringen zum Schutz in ein leerstehendes Haus ein, durchkreuzen
die Landschaft "without much regard to roads", wie es im Text
heißt. Symbolisch übersetzt: Sie laufen durch Gegenden,
die kulturell noch nicht markiert sind, die keine Vorgaben machen.
Dann erreichen Sie zur Nachtzeit eine sonderbare Architektur,
in der sie ausruhen möchten. Sie ertasten in der Dunkelheit
den Platz, sie spüren große Steine, die die Sonne des
Tages gewärmt hat und in denen der Wind eine Musik macht,
"the note of same gigantic one-string-harp". Es handelt sich um
Stonehenge.

Ein
heidnischer Tempel. Hier legt sich Tess auf einen archaischen
Altar, lässt sich von ihm wärmen. Sie erinnert sich
ihrer Herkunft aus einer armen Schäferfamilie, der herzlosen
Behandlung durch die christliche Gesellschaft und stellt fest:
"I was a heathen. So now I am at home."5 Man könnte
auch sagen, dass sie schließlich einen Ort gefunden hat.
Der
Text von Hardy bietet Gelegenheit, auf eine Konzeption des Ortes
einzugehen, die der französische Ethnologe Marc Augé
in einem überlegenswürdigen Buch entwickelt hat. Das
Buch trägt den programmatischen Titel Orte und Nicht-Orte. Darin prägt Augé den Begriff des anthropologischen
Ortes. Als Ethnologe bezieht Augé sich auf traditionale
Gesellschaften, die in einem festen System aus symbolischen Räumlichkeiten,
Ritualen, eingefassten Handlungen, religiösen Grenzziehungen
leben. Nach Augé wird die Metrik des Raumes als Grund,
Rahmung und Bühne gelebter Sinnprinzipien genutzt. Man könnte
diese vormoderne Gegebenheit in dem Roman wiedererkennen: Ein
mit Ursinn aufgeladener Raum wird zur Heimat eines Menschen, er
findet dort seine Identität, er spürt Schutz und emotionales
Containment. In diesem Sinne böte der Roman ein rückwärts
gewandtes Idyll an, das als eine Art romantischer Protest gegen
die Moderne installiert wird. Diese kulturkritische Haltung findet
sich in der Tat bei Augé, der in der Moderne der Gegenwart
er bezeichnet sie als Übermoderne einen Prozess
am Werk sieht, der Orte vernichtet. Er schreibt: "So wie ein Ort
durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist,
so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich
weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt,
einen Nicht-Ort."6
Als
Nicht-Orte nennt Augé Transiträume, Flughäfen,
Bahnhöfe, Autobahnen, Hotelketten und Durchgangswohnheime,
Feriendörfer, Flüchtlingslager, Slums aber auch die
beweglichen Behausungen der Verkehrsmittel. Nun deutet ich das
Textbeispiel aber gerade als Bearbeitung des modernen Imperativs
des Transitorischen. Denn wir lesen über zwei Figuren, die
Flucht und Versetzung aus ihrer Kultur erleben. Passagiere zwischen
Kultur und Natur, zwischen Machtraum und Landschaft. Zudem ist
der archaische Sinn des Ortes Stonehenge ja ganz unklar. Es ist
die individuelle Sinnzuschreibung, die Tess dazu treibt, den Satz
von der Ankunft auszusprechen. Hervorzuheben ist, dass das Paar
keine Gemeinschaft um sich hat, keine eingelebten Traditionen
exerziert, keinem gesellschaftsbildenden Glauben anhängt.
Sie haben sich an einem Durchgangsraum niedergelassen und dort
den Ort gefunden oder erfunden. Das Moderne daran ist und
hier stellt sich mein Konzept gegen das kultur- und modernekritische
von Augé , dass Orte vielleicht auch als ephemere
Gegebenheiten innerhalb einer auf Mobilität, Medialität
und Profanität basierenden Kultur gebildet werden können.
Allgemeiner gesprochen: Welche anspruchsvollen oder trivialen
Praktiken werden von den Entwurzelten wann und wo in Szene gesetzt?
Dahinter steht die Vermutung, dass das Ich ein Begehren spüren
mag gleichsam eine historisch und kontetxtuell angepasste
anthropologische Nötigung , diesen Andrängungen
des Leeren etwas Eigenes entgegenzusetzen. Die je individuellen
und kulturell entstehenden Formen der Ortbildung gilt es zu identifizieren
und die Kraftfelder der Auseinandersetzung zu beschreiben.
Die
Intuition des Autors Hardy besteht darin, dass er die alte Idee
vom Ort im Lichte moderner Entwurzelungserfahrung revidiert. In
der literarischen Verdichtung gelingt es ihm sogar noch, die kalt-instrumentelle
Raumverfügung vorzuführen, die von der Orthaftigkeit
des Raums nichts wissen darf. Sie tritt auf in Gestalt von Polizisten;
sie umstellen den Ort, besetzen seine Öffnungen, um zu erfassen,
festzusetzen, den Ort machttechnisch zu markieren.
Innerhalb
dieser drei Parameter archaisch-anthropologischer Ort,
modern-ephemerer Ort und machtstrukturierter Raum spielt
nun meines Erachtens das Bild von Stonehenge eine signifikante
Rolle. Ich sprach davon, diese Architektur emblematisch zu verstehen.
Unabhängig vom historischen Sinn ist in ihr das Bild des
Offenen, der Umgebung, des Durchgängigen, der multiplen Richtung
eingelassen. Es ist eine Architektur ohne Dach, ohne Türen
aber mir vielen Aus- und Eintritten. Sie ist eine Räumlichkeit,
die sich gerade nicht auf das territoriale Gefüge reduzieren
lässt. Sie lädt ein zu Praktiken des Nomadisierens und
zeigt dennoch identitätsbildende Potenziale. Meine Frage:
Lässt sich dieses Bild in eine Praxis des Ortes übersetzen?Ein
anderer Theoretiker des Ortes, Michel Serres, hat in diese Richtung
gedacht. In Absetzung vom euklidischen oder cartesianischen Raum
entfaltet er ausgehend von der Topologie die Idee des qualitativen
Raums. Die Topologie kümmert sich um die Verteilung von Punkten
in komplexen räumlichen Arrangements. Die Topologie sucht
nach Beziehungen im Fluxus von Veränderungen. Das ist zu
übersetzten mit Fragen nach dem Offen und Geschlossenen,
nach Verbindungen und Unterbrechungen, nach Schwellen und Transfers,
nach Kommunikation.7 Ich nenne lediglich diese Begriffe
als Anreiz, um darüber nachzudenken. Ich finde sie aber bereits
in Hardys Verwendung von Stonehenge angesprochen. Serres selbst
schreibt, dass unser Körper mit der Vielfalt dieser Räume
bzw. Orte blind umgeht und dass eine Ästhetik dieser Räume
noch nicht geschrieben ist. Das wäre vielleicht unsere Aufgabe:
die Blindheit in Sehen zu verwandeln und eine Ästhetik, ein
Wahrnehmen zu entwickeln. Soviel lässt sich sagen: Der Ort
ist keine abmessbare Sache. Auch wenn er eine räumliche Qualität
hat, geht sein Sinn darüber hinaus. Er ist nicht der Platz
der Effizienz, der Störungsfreiheit, der bloßen Regeneration,
des katalogisierbaren Wissens. Ganz vorläufig schlage ich
als Kategoriengerüst für Ort eine Begriffstrias vor:
Symbolmanifestation, Praktik und Imagination.
Symbolmanifestation:
Das Räumliche geht mit einer Gestaltung eine Allianz ein,
woraus ein Sinn erwächst. Diese Anreicherung kann von bewusster
künstlerischer Formung bis zur beiläufigen Einschreibung
reichen. Das Benutzen schafft Symbolik.
Praktik:
Der Ort gibt Platz für Tätigkeiten, die über die
Selbsterhaltung hinausgehen. In der Praktik findet sich das Subjekt,
kann Soziales herstellen, kann experimentieren, reflektieren,
unsinnig sein ...
Imagination:
Unter Imagination fasse ich nicht nur innere Prozesse des Fantasierens
und Träumens, sondern auch die Bildung von eigenwilligem
Wissens, von Erzählung und Identität. Ich spreche diese
Punkt an, da die gesellschaftliche Modernisierung mit ihrer Produktion
von Massenarbeitslosigkeit und flexibilisierten Tätigkeitsmenschen
ungeheure Reservoirs an Fähigkeiten und Wissen hervorbringt,
die nicht mehr in der Verwertungsöffentlichkeit erscheinen.
Diese unsichtbaren Kompetenzen suchen einen Ort so meine
Behauptung.
Meine These lautet also: Wenn Symboläußerung, Praktik
und Imagination zusammen kommen, dann vollzieht sich die Produktion
eines Ortes. Sie merken, dass es schwierig ist, dieses
Dritte neben einer archaischen Ortidylle und einer globalisierten
Raumbeherrschung mit ihrer Ökonomie optimierter Praxis dingfest
zu machen. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob sich mit
diesem Konzept bereits Wirklichkeiten erkennen lassen oder ob
ich lediglich eine wunschartige Utopie veranschlage, die aus der
Krisendiagnose erwächst. Die Utopie, wörtlich: Nicht-Ort,
ist im Kern ja stets das historisch gebundene Gegenmodell zu realen
Gegebenheiten, die als bedrängend, mangelhaft oder ungerecht
erfahren werden. Lassen Sie mich in diesem Kontext auch den nicht
kanonisierte Begriff der Heterotopie (Andere-Ort) nennen, den
Michel Foucault geprägt hat.8 Heterotopien sind
Orte des Austritts und der Illusion (was sie in die Nähe
der Utopie bringt). Aber anders als die Utopie, die rein literarisch
bleibt, sind Heterotopien reale Plätze, von denen aus man
wieder zurückkehrt in die Wirklichkeit der Räume: Foucault
nennt Kino, Theater, Garten, Friedhof, Museum, Bibliothek und
das Schiff, das nicht als Transportmittel verstanden, sondern
als Chiffre für Flucht, Traum, Ankunft, Probegemeinschaft
ausgedeutet wird. Das klingt nach Kompensation, nach Ersatz. Oder
liegen hier schon die Muster für die volle Orterfahrung vor?Wie
auch immer: Wenn es stimmt, dass mit der Beherrschung des Raumes
eine instrumentelle Logik Überhand gewinnt, dann steht der
Ort ein als Instanz, wo es um vitale Fragen der Freiheit, der
individuellen Selbsterzeugung, der Ethik, der Gestaltung von Lebensarten,
der Verwendung von Symbolen, der Erinnerung, des Widerstands,
des begehrten Wissens geht. Gerade auch mit Blick auf die Gestaltung
von Umwelten auch unter Einsatz von Medien und Kunst
wäre mit der kritischen Instanz Ort das Gefüge
von Nachbarschaften zu analysieren. Nicht der abgekappselte Ort,
sondern die Kombinatorik der Orte und Räume steht zur Debatte.
Damit ist nicht weniger als ein politisch-anthropologisches Unterfangen
bezeichnet. Denn es ist ja zu fragen, was den Menschen ausmacht,
welche Potenziale ihm innewohne, die er in seinen Wanderungen
zwischen Räumen und Orten entfaltet. Anders als das Konzept
vom anthropologischen Ort, das mit einem statischen Menschenbild
arbeiten kann, sind wir mit einem humanum konfrontiert,
das sich beständig zu wandeln scheint. Und es bleibt die
große Frage, ob in den Veränderungen grundlegende Gaben
oder Mängel, die den Individuen mitgegeben werden, Evolutionen
durchlaufen und weiterhin die Notwendigkeit eines Ortbezugs einklagen.
Politisch nenne ich diese Frage, weil es letztlich darum geht, wie die differenzierten, komplementären oder auch
konfligierenden Fähigkeiten erscheinen, in Beziehung zu einander
treten, wie sie wirken und welche Kultur daraus entsteht (bzw.
entstehen soll). Wenn ich sagte, dass es schwierig ist, jenseits
der Abstraktion und Utopie ein aussagekräftiges Vorstellungsbild
vom Ort zu zeichnen, dann mag es genau daran liegen, dass entscheidend
für seine Existenz unsichtbare Qualitäten sind und er
die Tendenz hat, sich der diskursiven Disziplinierung zu entziehen.
Dennoch möchte ich Versuche unternehmen, die Abstraktion
zu unterlaufen und Ahnungen zu geben, wie sich Ort im Konkreten
herstellt. Zu dem Beispiel aus Thomas Hardys Roman möchte
ich noch drei weitere hinzufügen. Ich will ihren Stellenwert
nicht überbetonen, nicht schon das Feld damit abstecken.
Aber sie geben vielleicht ein Gefühl davon, dass sich mit
'Ort' ganz unterschiedliche Ästhetiken, Denk-, Fühl-
und Wissensweisen verbinden.
1.
Beispiel: Ich entnehme es Claude Lévi-Strauss' Buch Traurige
Tropen.9 Der Forscher reist mit dem Schiff, er
überquert das Meer. Das Meer ist anders als das Land Sinnbild
einer Leere, es enthält keine Zeichen, keine Menschen, keine
zu deutenden Details. Es ist rohe Natur. Und das Schiff
nichts weiter als die Wartestation bis zur Begegnung mit der fremden
Kultur? Am siebten Grad nördlicher Breite weiß Lévi-Strauss
zu berichten, dass im Jahre 1498 Columbus genau hier einen Kurswechsel
vollzogen hat, der ihn zur Entdeckung Brasiliens führte.
Das Meer ist für einen Moment eine Einschreibefläche
für Historie, die man zwar nicht sehen aber wissen kann.
Im gleich Atemzug berichtet er von den alten Seefahrern, die nicht
das Neue suchten, sondern glaubten, auf den Spuren Odysseus oder
der Bibel zu reisen, um das Bekannte wiederzufinden. Der Autor
füllt das Naturding und den Raum Meer sinnbildlich auf, weil
er die Geschichte der Conquistadores und Entdecker kennt. Für
einen Augenblick wird Lévi-Strauss heimisch, sieht sich
in einer Genealogie und identifiziert sich. Das Meer wird durch
den symbolischen Akt des Wissens und der Imagination zum ephemeren
Ort, der sich aus der puren Räumlichkeit und Unstrukturiertheit
erhebt.
2.
Beispiel: Kunst kann Sie Hinweise auf Produktionsprozeduren
geben, die auf die neuen Lebensweisen in Raum, Virtualität
und Mobil reagieren? Auffällig ist, dass seit den sechziger
Jahren die Notate der Nicht-Ort, der Orte der Leere und Leblosigkeit
fasziniert haben: von der New Topography (Ed Ruscha, Dan Graham)
bis zur gegenwärtigen Architekturfotografie der Bechers und
ihren Schülern reicht die Ikonografie der Vakuen und der
grafischen Oberfläche
Ed Ruscha: 26 Gasoline Stations, 1963
Diese,
das Statuarische monumentalisierende Kunst, hat ihren Kontrapunkt
in vielerlei Beschäftigungen mit Räumen, die Entwürfe
für das Lebendige oder Reflexionen darauf sind. Nur zwei
Namen mögen für diese Tendenz stehen: Tracy Emin und
Andrea Zittel.
Tracy Emin: Everone I Have Ever Slept with
1963-1995, 1995
Vor
allem Zittel beschäftigt sich systematisch mit den Bedingungen
moderner Lebenswelt. Als Beispiel wähle ich die Escape Vehicles.
Die Künstlerin kommentiert diese wohnwagenähnlichen
Kästen ohne Räder im Sinne der spannungsvollen Opposition
von Bewegung (Vehicle) und Eigenraum: "Die 'Escape Vehicles' sind
Ausdruck unseres Wunsches nach einem sicheren und behüteten
Universum, in das jeder Besitzer seine eigenen Rückzugsphantasien
hineinprojizieren kann. Sie handeln von unserer Neigung, uns auf
innere Welten im Gegensatz zur äusseren Welt zu konzentrieren.
[...] Insgesamt habe ich zehn 'Escape Vehicles' gemacht; inzwischen
ist jeder einzelne Innenraum vom jeweiligen Besitzer nach dessen
individuellen Rückzugsphantasien gestaltet."10
Nun
könnte man einwenden, dass mit diesen Kapseln lediglich das
geschrumpfte, auf monadische Einsamkeit reduzierte Subjekt thematisiert
wird. Aber genau darum muss sich eben auch das Konzept des Ortes
kümmern, um diese Formen moderner Zurichtung und ihren Reflexen
darauf. Immerhin schafft es Zittel, das Kunstwerk dem Kosmos bloßer
Betrachtung zu entziehen. Hingestellt wird eine Nische zum Phantasieren,
Denken, Müßigsitzen, die das Subjekt rücksichtslos
nach seinen Maßgaben mit Symbolen ausgestalten kann. Das
Vehicle, das Bewegungsmittel ohne Bewegung bringt die innere Welt
in Bewegung. Bleibt die spannende Frage, was davon nach außen
getragen wird, hinein in andere Orte, andere Räume?
3.
Beispiel. Der Flaneur. Beide letztgenannten Hinweise sind darin
ähnlich, dass der Ort sich engräumig auf einem Punkt
oder in einer Kleinwelt realisiert. Anders verhält es sich
in der Strategie des Flaneurs, jener signifikanten historischen
Gestalt des 19. Jahrhunderts, der Walter Benjamin seine Aufmerksamkeit
geschenkt hat. Der Flaneur repräsentiert einen anderen, großzügigeren
Umgang mit Raum und seiner Umgestaltung in einen Ort. Der Flaneur
durchstreift die Stadt mit ihren Waren und massenhaften Triebsamkeiten,
setzt ihr jedoch Langsamkeit, Betrachtung, Traumverhalten entgegen.
Er nimmt das Vorfindliche und investiert Imagination, um es zu
individualisieren. Benjamin: "Die Kategorie des illustrativen
Sehens [ist] grundlegend für den Flaneur [...] er schreibt
[...] seine Träumerei als Text zu den Bildern."11 Der Flaneur zeichnet seine erratischen Wege unsichtbar in die
Stadt ein. "Die Menge", so Benjamin, "ist der Schleier, durch
den hindurch dem Flaneur die gewohnte Stadt als Phantasmagorie
winkt. In ihr ist sie bald Landschaft, bald Stube."12 Die Flanerie vermag die Stadt in ein Interieur zu verwandeln,
"eine Wohnung, deren Gemächer die Quartiers sind".13 Dem Flaneur wird das Rauschen zum Rausch, worin die rationale
Durchstrukturierung des Raums aufgehoben wird in etwas Erlebnishaftes
und Performatives. Der Ort kann also durchaus Ausdehnung haben,
er muss nicht privatistisch unsichtbar sein. Eher stellt sich
das Problem des Um-Gangs. Interesse kann der Flaneur m.E. heute
noch haben, da er die Figur des Reisenden präfiguriert, die
heute allgegenwärtig ist.Da wir hier im Kontext von Medien
und Medienkunst situiert sind, möchte ich meine Übelegungen
mit einigen Beobachtungen zu den elektronischen Medien und ihre
Realtion zu Orten abschließen.
Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass es eine Kulturkritik
gibt, die in den global vernetzten Medien Raumvernichter erkennen.
Ich lasse noch einmal Paul Virilio sprechen:
"Die
neuesten Technologien lassen den Raum in seiner Ausdehnung
und Dauer verschwinden. Sie reduzieren die Welt auf ein
Nichts, wie man sagt. Das ist ein tiefgreifender Verlust
[...] Es gibt eine Verschmutzung [...] der Distanzen und
der Zeiträume, die mich im Hier und Jetzt leben lassen,
an einem Ort und in der Beziehung zu anderen Menschen, die
durch Begegnungen entsteht, nicht durch eine Tele-Präsenz,
eine Tele-Konferenz oder Tele-Shopping."14 |
70
Jahre vor Virilio die gleiche Kritikgeste: In Der Zauberberg beschreibt der Erzähler einen Kinobesuch; zu sehen
gibt es die "Bilder aus aller Welt":
"Man war zugegen bei alledem; der Raum war vernichtet,
die Zeit zurückgestellt, das Dort und Damals in ein
huschendes, gaukelndes, von Musik umspieltes Hier und Jetzt
verwandelt."15 |
Was
wir mit den elektronischen Medien verbinden, sind geregelte Nutzerprozesse
statt Begegnung, Bilder statt Imagination, Maschinenlogik statt
Soziabilität, Information statt eigensinnigem Wissensaufbau,
Simulation statt Realitätserfahrung. Ich will dies nicht
vertiefen, das gezeigte Filmzitat aus Der perfekte Krieg hatte in dieser Hinsicht einiges Demonstrationsmaterial geliefert.
Doch möchte ich zwei Beobachtungen nennen, die sich an diese
neuen Gegebenheiten anschließen.
Die
erste Beobachtung liegt auf symbolischer Ebene: Es fällt
auf, dass die neuen Medien mit Metaphern infiziert sind, die noch
an alte Konzepte der Raumverbundenheit appellieren. Begriffe wie
virtueller Raum, Cyberspace, Datenautobahn, Lernumgebung, Informationsarchitektur,
Fenster, Besucher, Domäne, Forum, Nomade, Site, Portal, Workspace,
Navigieren, Briefkasten etc. sind vielleicht nicht nur notwendig,
um eine Übersetzbarkeit und Besetzbarkeit des Neuen zu gewährleisten,
sondern auch, um einen Sinnhorizont aufzuspannen, der vergessen
lässt, dass man es mit nichts als mit Pixeln zu tun hat,
mit Rechenoperationen und mit symbolischen Oberflächen. Die
zweite Beobachtung bezieht sich auf die Ubiquität der Medien:
In ihrer mobilen Form scheinen Sie dazu erfunden worden zu sein,
um an die Augéschen Nicht-Orte gebracht werden. In der
Bildbank von Getty finden Sie eine Vielzahl von Visualisierungen,
die diese neue Lebenswelt glorifizierend wiedergeben. Ich habe
nur einige paradigmatische Bilder ausgewählt, um Ihnen die brave new world of media and traveling anschaulich zu machen.
So
wie die Raummetaphern in den Medien vielleicht Kompensationsfunktion
in Bezug auf den Raumverlust haben, so haben die mobilen Medien in den Transiträumen Kompensationsfunktion in Bezug
auf den Ortverlust: Die solipsistische Beschäftigung mit
dem Gerät schattet die leere, symbolschwache und praxisarme
Umgebung ab und erfüllt das Subjekt mit selbstgenerierten
Ereignissen. Sollte man also in der Mediennutzung eine zeitgenössische
Form der mobilen Orterfindung erkennen? Das ist meine erste Frage.
Sie lässt aber noch ganz offen, welche Ereignisse, welche
Symbolisierungsstrategien, welche sozialgestaltenden Prozesse
hier stattfinden und ob sie überhaupt stattfinden.Und die
Medienkunst? Entschuldigen Sie, wenn ich nur generalisierend sprechen
kann, doch erscheint es mir, dass auch in dieser Sparte bei aller
hoch entwickelter technischer Raffinesse und Interaktionspotenziale
zwischen Werk und Rezipient eine grundlegende Struktur erhalten
bleibt, die generell der profanierten Kunst eigentümlich
ist: Das Werk bietet sich zur kontemplativen, distanzierten Betrachtung
an, vermittelt einen Inhalt, bleibt aber als eigensinnige symbolische
Form letztlich dem System Kunst zugehörig und lässt
sich schwerlich in eine Praxis individueller oder kollektiver
Lebensgestaltung integrieren.Wieder im beispielhaften Sinne zeige
ich Ihnen zwei Beispiele von Medienkunst aus den 80er Jahren.
Marie-Jo Lafontaine: Victoria, 1988
Ira Schneider: Time Zones, 1980
Ich habe diese Kunstwerke allein deshalb ausgewählt, weil
sie eine formale Korrespondenz mit Stonehenge haben aber
meines Erachtens vollständig anders funktionieren. Denn hier
wird ein Bildraum geschaffen, der geschlossen ist, in dem der
Betrachter gleichsam von allen Seiten angeschaut wird und dabei
keine Transformationsmöglichkeiten erhält. Man könnte
sogar sagen, dass hier Hyperkunstwerke vorliegen, die in ihre
Gefängnishaftigkeit keine Leere lassen für die
Vorstellung, den Traum, den Kontakt.
Mein
pathetischer Ortbegriff (wenn ich so sagen darf) sucht also nach
anderen Schnittstellen zwischen Medium und Körper, Medium
und Raum, Medium und Praxis. Die Frage, die ich habe: Gibt es
jenseits von digitaler Simulation und Steuerungslogik, jenseits
von Konsum und Kontemplation ein anderes Modell? Anschließend
an die Bilder in meinem Vortrag könnte die Frage auch positiv
gestellt werden: Wäre es möglich, unter Einsatz von
Medien so etwas wie Stonehenge zu erstellen nur eben nicht
mit der Dunkelheit und Schwere des Ewigkeitsmonuments, sondern
leicht, ephemer, individuell, spielerisch ...
1
Norbert Bolz, Weltkommunikation, München 2001.
2 Paul Virilio, Der negative Horizont, München 1989,
114.
3 René Descartes, Abhandlung über die Methode, Dritter
Abschnitt.
4 Michel Serres, Die fünf Sinne, 349.
5 Thomas Hardy, Tess of the D'Urbervilles, New York 1993, 364-365.
6 Marc Augé, Orte und Nicht-Orte, 92-93.
7 Michel Serres, Hermes 5, 88.
8 Michel Foucault, Andere-Räume.
9 Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen
10 http://www.xcult.org/x/checkin/aus/texte/zittel_t.html.
11 Walter Benjamin, Passagen-Werk, 528.
12 Ebenda, 54.
13 Ebenda, 531.
14 Die Informationsbombe - Paul Virilio und Friedrich Kittler
im Gespräch. Ausgestrahlt im Deutsch-Französischen Kulturkanal
ARTE November 1995, in: http://www.jcpohl.de/texte/virikitt.html
15 Thomas Mann, Der Zauberberg.
Vortrag:
Trier 29.1.2005
© Gunnar Schmidt
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