Unsichtbare Körper
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Röntgenstrahlen und die literarische Imagination*

Jenseits der Sichtbarkeit
Mehr-Sehen, Neu-Sehen, Anders-Sehen — kaum eine Abhandlung über die Geschichte der Röntgenstrahlen und -fotografie versäumt es, die neue Medientechnologie als Erlöserin einer Sichtbarkeit zu feiern, die bis dahin an die Gesetze des natürlichen, protheselosen Auges gefesselt war. In der Radiografie mit Röntgenstrahlen kulminiert eine Entwicklung, die sich seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts vollzogen hatte: Die Medien des Sehens (z.B. Fotografie, Stereoskop, Mikroskop) und die Entdeckungen der Wahrnehmungsphysiologie hatten im Gleichschritt die Beschränkung der visuellen Wahrnehmung offengelegt. Stellte sich die traditionelle Fotografie als Aufklärungsmedium gegenüber dem Äußeren dar1, trat am Ende des Jahrhunderts die Röntgen-Fotografie an, um das Verschlossene ins Licht zu bringen. Die Technologien der Sichtbarmachung hatten zu ihrer Apotheose gefunden. Das Sichtfeld schien zur Panvision geweitete, was futuristische Utopien des Erkennens initiierte.2
Im Schatten der neuen Sichtbarkeit wurde auch das Thema der Unsichtbarkeit mitgeführt. Diesem Aspekt sollen die folgenden Ausführungen gelten. Dabei soll nicht die Unsichtbarkeit der Strahlen im Zentrum stehen, die in der ersten Zeit nach der Entdeckung den Wissenschaftlern ein Rätsel war und in der kulturellen Fantasie wirkmächtige Spuren des Unheimlichen hinterlassen hat.3 In den Fokus nehme ich jene Unsichtbarkeit in der Ästhetik des Röntgenbildes, die mit dem Mehr-Sehen einher geht. Denn die Enträumlichung und Transparentmachung des Körpers im Bild werden mit einer weitgehenden Beseitigung des natürlichen Sichtbarkeitsreichtums erkauft. Auf dieses Faktum anspielend schreibt der Ingenieur und Erfinder Alan Archibald Campbell Swinton 1896 in einem blumigen Stil: "The veil of flesh may now at will be withdrawn". Und Hamlet zitierend: "The 'too too solid flesh' had virtually 'resolved itself into dew' at the magic touch of the Röntgen rays."4
Die Wahrnehmung des aufgelösten Körpers und der Diskurs darüber blieben nicht auf die Wissenschaftssphäre beschränkt; ein direkter und indirekter Transfer in die Literatur fand statt.5 Die Aufnahme wissenschaftlicher Sachverhalte in den Kosmos der Literatur folgt nicht einer einfachen Übernahme; ihre Rolle ist nicht die des Multiplikators von Wissen. Anders als in der rationalen Wissenschaftskultur werden hier Fantasien, Unsicherheiten, Emotionen und Affekte bearbeitet. Das Terrain der Literatur ist der (irrationale) Unterboden einer Kultur, die entscheidend auf Wissenschaft gründet.
Am bekanntesten ist wohl die Röntgenszene in Thomas Manns Der Zauberberg. Hier wird das Röntgenbild als Memento-mori-Motiv aufgewertet. Weniger beachtet wird für gewöhnlich der Unsichtbarkeitsaspekt, den Hans Castorp ebenfalls aufspürt. Ähnlich wie Swinton sieht Castorp "durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er [Hans Castorp] wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst".6
Die Spukhaftigkeit, von der bei Thomas Mann die Rede ist, folgt nicht jener im Märchen oder Mythos, in denen der Topos der Unsichtbarkeit eine lange Geschichte hat. Bereits Autoren des 19. Jahrhunderts setzen auf eine wissenschaftlich durchwirkte Fantastik, um die phantasmatische Wirksamkeit von realen Erfindungen und Entdeckungen auszuweisen. Auch nach 1895 greift die Fiktion die Phänomene der Strahlenphysik und des Lichts auf. Sie spielt mit diesen wissenschaftlichen Versatzstücken, um eine binnenliterarische Glaubwürdigkeit zu generieren. Die (Falsch-)Rezeption von Wissen durch Literatur, der freie fiktionale Entwurf von Erkenntnissubjekt, -objekt und Technologie sowie die Überhöhung ins Fantastische mögen unter wissenschaftshistorischem Gesichtspunkt irrelevant sein, weil sie nicht zum System Wissenschaft gehören. Zweifelsohne wirken sie aber mit am Aufbau einer allgemeinen kulturellen Semantik, in der Wissenschaftsdiskurs, Popularisierung und Literatur zusammenspielen.

H.G. Wells: das verkehrte Röntgen-Experiment
Der Autor, der das Röntgen-Paradigma als erster aufgegriffen und die Transparentmachung des Körpers bis zur Unsichtbarkeit zum dramatischen Kern eines Romans gemacht hat, ist H.G. Wells. Bereits 1897 erscheint The Invisible Man. Im Zentrum dieser Geschichte wie aller anderen, die im Folgenden behandelt werden, steht die moralische Korruptheit eines Wissenschaftlers, der seine Erfindungen und Entdeckungen zu unheilvollen Machtausübungen nutzen will. Die Unsichtbarkeit wird erhöht zur Allegorie des anti-aufklärerischen Menschen, der eben nicht Licht ins Dunkel bringen will. Ich werde diese ethische Dimension vollständig vernachlässigen und mein Augenmerk allein auf die literarische Konstruktion des Körpers und seine Semantik richten.

Wells war bekanntlich ein in den Naturwissenschaften ausgebildeter Autor. Diese Affinität ist im Text deutlich ausgeprägt. In der Mitte des Romans wird über drei Kapitel die Wissenschaftsfiktion entfaltet, wobei die Übernahmen aus der Wissenschaftswirklichkeit unübersehbar sind. Der unsichtbare Wissenschaftler Griffin schildert seinem ehemaligen Studienkollegen Kemp, welche Wege ihn zu seinen Experimenten geführt haben. In diesem Dialog wird das Thema des Lichts erörtert, zunächst noch ganz im Sinne einer Physik des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich um Brechung und Reflexion gekümmert hat. Doch dann injiziert Wells die röntgensche Entdeckung in das alte Paradigma und vollzieht einen epistemischen Wandel. Durch eine einfache Umkehrung wird die Logik der Röntgen-Entdeckung in die Erzählung eingearbeitet: Sind es bei dem Forscher in Würzburg Strahlen, die weder refraktieren noch reflektieren, wird in der fantastischen Fiktion hingegen ein Körper modelliert, der das normale Licht weder bricht noch zurückwirft. In der frühen Wissenschaftsliteratur wird zuweilen auf die Transparenz der Qualle hingewiesen, um das noch rätselhafte Phänomen der Transparenz mit dem Alltagsverständnis koppeln zu können.7 In der Realität wird also genau die Verkehrung vollzogen, die Wells literarisch nutzt. So inkorrekt dieser Vergleich unter physikalischem Gesichtspunkt ist, er fungiert als Plausibilisierungsstrategie. Wells folgt in seinem Text dieser Strategie und weist der Figur des Dr. Kemp die Rolle zu, die neue Unsichtbarkeitstechnologie erklärbar zu machen. In einem inneren Monolog sagt er:

"Is there such a thing as an invisible animal? In the sea, yes, thousands! millions! All the larvae, all the little nauplii and tornarias, all the microscopic things, the jelly-fish."8

Wells Inspiration durch die Röntgenikonografie wird an Stellen seines Textes deutlich, wo er den Übergang von der Transparenz zur Unsichtbarkeit expliziert. Als habe er die Ausführungen von Archibald Campbell Swinton gelesen, lässt der Autor seine Figur sagen: "One could make an animal — a tissue — transparent! One could make it invisible!"9 Auch die Versuchsanordnung ist unverkennbar dem zeitgenössischen Labor abgeschaut, in dem mit hohen Spannungen und Entladungen gearbeitet wurde. Die literarische Sprache maskiert nur wenig den realen Versuch; statt Entladungsröhren sind es bei Wells "two radiating centres of a sort of ethereal vibration".10 Griffin erwähnt in diesem Zusammenhang sogar den deutschen Forscher: "No, not these Röntgen vibrations [...]"11 — wobei er durch die Verneinung gerade die Nachbarschaft und sinnhafte Anschließbarkeit an die wissenschaftliche Aktualität außerhalb des Textes herstellt. Auch Griffin setzt sich wie Röntgen den Vibrationen aus, mit den Resultat, dass er eine Bildlichkeit beschreibt, die unverkennbar jener der Röntgenfotografie ähnelt: "I shall never forget that dawn, and the strange horror of seeing that my hands had become as clouded as glass, and watching them grow clearer and thinner as the day went by [...]."12

Der Topos der durchleuchteten Hand, der die wissenschaftliche wie auch außerwissenschaftliche Publizistik und Ikonografie der Röntgen-Frühzeit beherrschte, wird auch hier in Szene gesetzt. Dass Wells damit jedoch mehr als ein intertextuelles und interikonografisches Spiel betreibt und eine grundsätzliche Neuorientierung des Körper- und Wahrnehmungskonzeptes thematisiert, erhellt sich im Vergleich mit einem weiteren Text.

Jules Verne: vom anatomischen zum energetischen Körper
Nur kurz nach H.G. Wells — nämlich 1898 — beginnt der Pionier der Science-Fiction-Literatur Jules Verne mit der Abfassung seines Romans Le Secret de Wilhelm Storitz.13 In der dramatischen Grundanlage ist der Roman dichotomisch aufgebaut: Ein Wissenschaftler — Wilhelm Storitz — wird als unsympathisch, geheimnisvoll und verschlossen, verbrecherisch und unmoralisch dargestellt. Im Laufe der Erzählung enthüllt sich, dass dieser Storitz im Besitz einer Unsichtbarkeitstechnik ist. Der erzählerische Grundkonflikt beginnt damit, dass er erfolglos um eine junge Frau, Myra Roderich, wirbt. Sein erfolgreicher Gegenspieler ist Markus Vidal, ein Maler. Er ist der Verlobte Myras, ein untadeliger Mensch, liebevoll, sozial integriert. Erzählt wird die Geschichte vom Bruder des Malers, der selbst ein Mann der Technik und Wissenschaft ist. Er schildert allerlei unerklärliche Vorkommnisse, die sich im Verlauf als hinterhältige und rachegeleitete Aktionen des unsichtbaren Storitz erweisen. Jules Verne durchsetzt dabei den ganzen Roman mit Anspielungen auf die Themen Blindheit, Undurchdringlichkeit, Licht, Sehen, Erkennen. Diese Anspielungen fungieren als thematischer Hallraum, in dem allerlei Spekulationen über das Unsichtbare angestellt werden, und auch die Möglichkeit des Okkulten und Übersinnlichen eruiert wird. Schließlich jedoch kulminiert der Diskurs in einen wissenschaftlich-erklärenden des aufgeklärten Erzählers. Er beginnt seine Ausführungen mit Erläuterungen zum Farbspektrum, um dann auf Phänomene einzugehen, die unverkennbar von den neu entdeckten Röntgenstrahlen inspiriert sind.

"Es müssen noch andere für unsere Sinne nicht wahrnehmbare Farben existieren. Warum sollten nicht diese Lichtstrahlen, die zur Stunde noch unbekannt sind, von den bekannten Strahlen ganz verschiedene Eigenschaften aufzuweisen haben? Diese können nur eine ganz geringe Anzahl fester Körper durchdringen, z.B. das Glas; vielleicht durchdringen jene alle festen Körper."

Um die Unsichtbarkeit Storitz‘ zu erklären, stellt sich der Erzähler eine Manipulation dieser Strahlen vor, die beim Eintritt in einen Körper das sichtbare Licht zersetzen und beim Austritt so wirken, "als ob der dichte Körper nicht dazwischen läge."14
Der Roman versäumt es — anders als bei Wells — eine ausführliche literarische Konstruktion der Unsichtbarkeitstechnik zu entwickeln. Er gewinnt jedoch seine Stärke, in dem er die Opposition zwischen Strahlenwissenschaft und Malerei ausspielt und darüber die epistemische Dimension schärfer fasst. Zum Ende des 19. Jahrhunderts beginnt sich nämlich eine Kluft aufzutun, die Verne gespürt haben muss. Die Abbildung des Menschen war ja nicht nur eine Domäne der Kunst, auch in der Medizin des 19. Jahrhunderts spielten anatomische, pathologische und physiognomische Darstellungen eine neue herausragende Rolle.15 Es galt, die Natur visuell aufzuzeichnen, im Bild registrierbar zu machen und sie auf diese Weise als Objekt des Wissens zu installieren. Die Ikonografie vergegenständlichte die Anschauung und konnte auf diese Weise als unmittelbar kommunizierbar erachtet werden. In einer Szene des Romans unterhalten sich die Brüder über ein Porträt Myras, das der Maler Markus angefertig hat. In diesem Dialog wird nicht über Gestaltungsprinzipien oder über künstlerische Imagination debattiert, sondern jener wissenschaftliche Abbildungsanspruch aufgerufen, der typisch für das 19. Jahrhundert ist. Der Maler behauptet paradox: "Es [das Porträt] ist ähnlicher als die Natur selbst!" Und setzt fort: "Manchmal wollte mir scheinen, als ob das Bild unter meinen Händen lebendig würde ..."16 Mit dieser Formulierung wird die Distanz zwischen Bild und Abgebildetem gleichsam negiert. Einige Sätze später resümiert der Ingenieur die Position des Malers: "Die moralischen Eigenschaften fesselten den Bräutigam, die physischen den Künstler, und diese werden ebensowenig von der Leinwand verschwinden, wie jene aus deinem Herzen ..."17
Damit wird der Malerei eine außerordentliche Potenz zugeschrieben: Sie folgt nicht nur der Anatomie auf äußerst getreue Weise, in ihr inkorporiert sich auch ein psychologisches Wissen über das dargestellte Objekt. Sie ist ein Supramedium der Erkenntnis.
Wilhelm Storitz hingegen verfolgt den anderen Weg: Er nimmt Rache am Objekt, in dem er es unsichtbar macht. Er lässt Myra verschwinden, die nun nur noch als "Seele des Hauses" eine schattenlose Existenz führt. Damit wird aber auch ein Körper ausgestellt, der nicht mehr in das alte Schema einer naturphilosophischen Betrachtung sich einfügt. Denn nicht erst mit Röntgen, bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird ein anderer Körper konstruiert — jener der Physiologie. Mit der materialistischen Helmholtz-Schule tritt eine physikalisch geleitete Lehre auf, die nicht mehr auf das Paradigma der Sichtbarkeit, sondern das der Messbarkeit setzt. Ihr ging es um Kräfte, um mechanische, elektrische, magnetische Kräfte, um Licht und Wärme. Nicht die Form, sondern die Transformation spielt hier die Hauptrolle, der Austausch und die Wandlung von Energien. Man schaut nicht mehr, sondern sucht Prozesse im Körper aufzuspüren. Genau das wird von Verne auf fantastische Weise beschrieben: wie ein Körper aufgrund von Energieeinwirkungen sein physiologisches Sein hervorkehrt, ein Sein, das nicht mehr beobachtbar ist. Er erfindet damit eine Situation, in der die Erkenntnis der Physiologie als unheimliches Erzählkonstrukt erfahrbar wird. Unzweideutig favorisiert Verne das alte anatomische Sichtbarkeits- und Visualisierungsparadigma. Der Maler erscheint als jemand, der über den liebenden Blick den Menschen besser und vollständiger erfasst. Der neue Unsichtbarkeitskörper hat etwas Gespenstisches, er ist das Resultat einer kalten Erkenntnis und Experimentierhandlung im Geiste des Physikalismus.18 Jules Vernes und H.G. Wells‘ Romane reagieren identisch auf eine wissenschaftliche Kultur, die den Energetismus ins Zentrum der Wissensformierung stellt. Bei Wells wird es ausgesprochen; Griffin, sagt: "I made a discovery in physiology."19 Auch er beschränkt sich nicht aufs Schauen und Registrieren, er setzt den Körper einem Strahlenfeld aus.

Jack London: Optik versus Physiologie
Das oppositionäre Schema leitet auch die Konstruktion der Kurzgeschichte "The Shadow and the Flash" (1906) des amerikanischen Autors Jack London. Doch bedient sich London nicht des Kontrasts von Bild und Nicht-Bild, er baut einen Gegensatz zwischen Wahrnehmungstäuschung und Körpermanipulation, um die Unsichtbarkeit unter zwei Paradigmen zu stellen. Unverkennbar sind bei diesem Text intertextuelle Einflüsse aus The Invisible Man zu registrieren wie auch die Erkenntnisse der Wahrnehmungsphysiologie und der Röntgenphysik.
Der Plot: Erzählt wird die Geschichte von Paul Tichlorne und Lloyd Inwood, zwei Männer, die sich fast zwillingsgleich ähneln und dabei von Kindheit an durch eine unbarmherzige Konkurrenzbeziehung miteinander verbunden sind. Beide studieren Naturwissenschaften und treten an einem Punkt in einen wissenschaftlichen Wettbewerb: Nach einer Diskussion über das Phänomen der Unsichtbarkeit beschließen sie, das Rätsel nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu lösen. Lloyd vertritt eine opto-physikalische Position. Er geht davon aus, dass ein absolut schwarzes Objekt keine visuelle Evidenz im Wahrnehmungsprozess erzeugt. Er arbeitet daran, ein Pigment zu entwickeln, dass eine vollständige Absorption des Lichts bewerkstelligt. Man könnte sagen, dass Lloyd das Prinzip der Tarnung verfolgt.20
Paul hingegen setzt auf das Prinzip Transparenz, denn das auch vollständig mit schwarzem Pigment getarnte Objekt wirft Schatten und ist daher indirekt wahrnehmbar. Wissenschaftshistorisch ist die Opposition deutlich markiert: Paul verfolgt in der Nachfolge der Röntgen-Entdeckung das ‚fortschrittlichere‘ Konzept. Ganz im Sinne eines physiologischen Ansatzes greift Paul denn auch experimentell in die Molekularstruktur des Körpers ein. Der Erzähler berichtet hier allein von Injektionen, die dem Objekt verabreicht werden, um die Unsichtbarkeit, also die absolute Transparenz zu bewirken. Wie bei Wells und Verne wird die Logik des Röntgenparadigmas einfach umgekehrt, nicht unsichtbare Strahlen durchqueren den Körper, sondern ein unsichtbarer Körper wird durchlässig für das sichtbare Licht gemacht.
Auf der Erzählebene wird die Konkurrenz der Wissenschaftsprinzipien nicht als Überlegenheit oder Unterlegenheit thematisiert, sondern in eine allgemeine Wissenschaftskritik überführt. In einem finalen Zusammentreffen und Kampf der nun unsichtbaren Akteure töten sich die Konkurrenten. Eine Metapher dafür, dass keine der beiden Forschungsleistungen über die andere zu siegen vermag. Der Erzähler endet mit dem pessimistischen Resümee: "I no longer care for chemical research, and science is a tabooed topic in my household. I have returned to my roses. Nature’s colors are good enough for me."21
Mit diesem Schlusssatz und dem Hinweis auf die Farben der Natur wird noch einmal — wie bei Verne — eine idyllische Zeit angerufen, in der die Betrachtung der Natur der direkte Zugang zu ihr war. Gleichzeitig belegt die Geschichte, dass mit den letzten wissenschaftlichen Technologien die Körperwelt ihr Wesen verändert hat. In diesem Sinne ist die Unsichtbarkeit, die die Literatur in Szene setzt, die Chiffre für den Verlust sinnlicher Gewissheit und für einen Auf-Bruch in die Moderne der Ungegenständlichkeit.


1 Vgl. Gunnar Schmidt, "Nach der Natur", in: ders., Anamorphotische Körper, Köln, Weimar, Wien 2001, 7-32.

2 Auf diesen letzten Aspekt fokussiert Nancy Knight, "'The New Light': X-Rays and Medical Futurism", in: Joseph J. Corn (ed.), Imaging Tomorrow, Cambridge, Massachusetts 1986, 10-34.

3 Allen W. Grove, "Röntgen's Ghosts: Photography, X-Rays, and the Victorian Imagination", in: Literature and Medicine, Vol. 16, Number 2, Fall 1997, 141-173.

4 Alan Archibald Campbell Swinton, "The Photography of the Invisible", in: The Quarterly Review, 183 (1896), 501, 500.

5 Auch in der Kunstsphäre vollzog sich zeitgleich ein Wandel der Anschauungen, die durch die neuen Strahlen entscheidend mitgeprägt wurden. Ich verweise nur auf den äußerst informativen Aufsatz von Linda Dalrymple Henderson, "Die Moderne Kunst und das Unsichtbare. Die verborgenen Wellen und Dimensionen des Okkultismus und der Wissenschaften", in: Okkultismus und Avantgarde (Ausstellungskatalog), Ostfildern 1995, 13-31. Die Parallelen und Differenzen in der Behandlung durch Kunst und Literatur können im Rahmen meines Aufsatzes leider nicht diskutiert werden.

6 Thomas Mann, Der Zauberberg (1924), Frankfurt am Main 1996, 304.

7 Monika Dommann hat diese Quellen versammelt und dargestellt: Durchsicht Einsicht Vorsicht, Zürich 2003, 326.

8 H.G. Wells, The Invisible Man (1897), New York 2002, 95.

9 Ebenda, 104.

10 Ebenda, 106.

11 Ebenda.

12 Ebenda, 112.

13 Der Roman wurde zu Lebzeiten Vernes nicht veröffentlicht. Michel Verne überarbeitete das Manuskript, der französische Text erschien erst 1910.

14 Jules Verne, Wilhelm Storitz‘ Geheimnis [1910], Berlin, Herrsching 1984, 164.

15 Siehe dazu meine Publikationen Anamorphotische Körper. Medizinische Bilder vom Menschen im 19. Jahrhundert, Köln 2001, und Das Gesicht. Eine Mediengeschichte, München 2003.

16 Verne, Geheimnis, 40.

17 Ebenda, 43.

18 Anzumerken ist, dass auch Thomas Mann in seinem Roman Der Zauberberg die Opposition von Röntgenbild und Malerei, von Physiologie und Anatomie thematisiert. Allerdings wird sie bei ihm in der Figur des malenden Hofrats Behrens harmonisiert. Im Kapitel "Humaniora" entfaltet Mann das intrikate und komplizierte Verhältnis von Abbildung, Erkenntnis und Lebendigkeit, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.

19 Wells, Invisible Man, 103.

20 Neben Jack London haben auch andere Autoren des Fantastischen in ihren Geschichten sich der Unsichtbarkeit durch Tarnung bedient und dabei auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Optik und Wahrnehmungsphysiologie rekurriert: Ambrose Bierce, "The Damned Thing" (1891), Edgar Rice Burroughs A Fighting Man Of Mars (1931), Henry Slesar, "The Invisible Man Murder Case" (1958).

21 Jack London, "The Shadow and the Flash" (1906), in: Basil Davenport (ed.) Invisible Men, New York 1966, 28.

© Gunnar Schmidt 2004

* in: Unsichtbare Körper. Röntgenstrahlen und die literarische Imagination, in: Werner Bautz, Uwe Busch (Hg.), 100 Jahre Deutsche Röntgengesellschaft, Stuttgart 2005, 164-167.