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Die
entdeckte Natur*
"Die Empfindungen sind [...] einzelne und vorübergehende
Bestimmungen, Veränderungen in der Substantialität der
Seele, gesetzt in ihrem mit derselben identischen Fürsichseyn."1
Diese
Definition schreibt Hegel im Abriss seiner Anthropologie. In ihm
kündigt sich ein Programm an, dass sich vom Klassizismus
absetzt. Bestimmungen in diesem Signifikanten nistet
ein wissenschaftlicher Optimismus, dessen Erkenntniswille auf
Grundlegendes aus ist. Was in der vorhergehenden Epoche unüberwindbare
Probleme aufgegeben hatte Flüchtigkeit und "unendlicher
Reichthum von Empfindungsbestimmungen"2 im Individuum
, steht nun an, in eine Pragmatik der Analyse überführt
zu werden. Kein Wort mehr von den gemischten Gefühlen (wie
im 18. Jahrhundert), die die Erkenntnis behindern und gleichzeitig
zum idealischen Bestand der ästhetischen Ausrüstung
des Körpers erhoben wurden: Die Empfindung ist einzelne Bestimmung. Mit dem neuen analytischen Impetus kündigt sich
auch ein neues Naturbild an. Hegel ist zwar seinen klassizistischen
Vorgängern darin ähnlich, dass er die Natur ganz unschwärmerisch
betrachtet, doch hebt er sie in den Rang primärer und ursprünglicher
Ausdrucksdarstellerin. Die kulturelle Überprägung hilft
der Natur nicht auf die Sprünge, sie unterbindet ihre Ausdruckskraft.
Mit
Hegel bewege ich mich ins Vorland der Wissenschaften und der Ikonografie.
Ohne seinem windungsreichen Weg durch die dialektische Aufhebung
in jedem Schritt folgen zu müssen, zeigt sein Denken programmatische
Kontur: Hegels enzyklopädische Rezeption zeitgenössischer
Wissenschaft wird zur Abstraktion katalysiert, an der die veränderten
Richtlinien der Erkenntnis ablesbar sind und in der sich eine
gewandelte Sensibilität dem expressiven Körper gegenüber
artikuliert. An Hegels Seite stelle ich die englische Autorin
Emily Brontë. Wo der Philosoph programmatisch spricht, dort
entwirft die Schriftstellerin in ihrem Roman Wuthering Heights ein fiktives Labor der Gefühle, einen Kunstraum zur Erzeugung
und Analyse der Leidenschaften. Beide zeigen, dass vor der Schönheit
und dem zivilisatorischen Anspruch eine Natürlichkeit existiert,
die ihren eigenen Ausdruck hat. Dieser Audruck wird zur Sprache gebracht.
Hegels
Rekurs auf die Medizin seiner Zeit er bezieht sich unter
anderem auf Bichat, Pinel, Esquirol, Müller3
ist keine Bestandsaufnahme, sondern der Ausgangspunkt für
einen Entwurf: Der natürliche Körper ist längst
noch nicht erkannt und die Wissenschaft von den Empfindungen als
körperliche Erscheinungen ist erst zu begründen: "Das
System des innern Empfindens in seiner sich verleiblichenden Besonderung
wäre würdig, in einer eigenthümlichen Wissenschaft,
einer psychischen Physiologie, ausgeführt und abgehandelt
zu werden."4 In wenigen Sätzen umzeichnet
Hegel diese zukünftige Wissenschaft und skizziert damit,
modern gesprochen, ein psychosomatisches Konzept.
"Es
wäre der Zusammenhang zu begreifen, durch welchen der Zorn
und Wuth in der Brust, im Blute, im irritablen Systeme, wie Nachdenken,
geistige Beschäftigung im Kopfe dem Centrum des sensiblen
Systems empfunden wird. Es wäre ein gründlicheres Verständnis,
als bisher, über die bekanntesten Zusammenhänge zu fassen,
durch welche von der Seele heraus die Thräne, die Stimme
überhaupt, näher die Sprache, Lachen, Seufzen, und dann
noch viele andere Particularisationen sich bilden, die gegen das
Pathognomische und Physiognomische zu liegen. Die Eingeweide und
Organe werden in der Physiologie als Momente nur des animalischen
Organismus betrachtet, aber sie bilden zugleich ein System der
Verleiblichung des Geistigen, und erhalten hiedurch noch eine
ganz andere Bedeutung."5
Die
Leiblichkeit ist das "Kunstwerk der Seele", in der das
Innere mit dem Äußeren identisch wird.6 Die hier eingeforderte Physiologie, die die verschiedenen Empfindungen
"besonderen Organen" zuweisen soll, nimmt vor allem
Gesicht und Augen als Agens der Seelenäußerung ins
Visier. Hegel zufolge sind die "hingehauchten Gemälde
der Seele"7, die "symbolische Natur"8 der Mienen in ihrer Bedeutung nicht immer leicht aufzuschlüsseln.
Doch als programmatische Forderung steht das Besondere, das Einzelne,
die Partikularisation im Blick. Auf der Stufe der anthropologischen
Bestimmung geht es nicht um synthetisch-ästhetische Anliegen,
nicht um kommunikative oder zivilisatorische Aufrüstung des
Leibes, sondern um eine systematische Dekodierung der natürlichen
Zeichen. Hegels Beispiele sind allerdings wenig beredt; er sagt
selbst, dass er nur die "gewöhnlichsten" Erscheinungen
besprechen will. Aber als Programmatiker muss er nur den Weg weisen,
er ist nicht gefordert, die empirische Forschung durchzuführen.
Die erkenntnisleitende Frage lautet nicht mehr: Wie kann ich die
Natur verbessern, wie kann ich sie zivilisieren? Das Projekt geht
nun von dem Problem aus, wie die Natur hervorgebracht und wie
ihre Zeichen lokalisiert werden können. Vornehmliches Ziel
der psychischen Physiologie ist es, Unterscheidbarkeit in der
Topografie der Leidenschaften herzustellen.
Dieses
Projekt nimmt Emily Brontë in ihrem Roman in Angriff. Anders
als Ann Radcliffe, die ungefähr ein halbes Jahrhundert zuvor
noch die unscharfen Leidenschaften und Empfindungen aus den Gesichtern
sprechen ließ9 , geht Brontë ins Detail. Wuthering Heights, ein Roman über die Wildheit, Ungezügelheit
und Intensität der Leidenschaften, ist auch ein Roman über
das Gesicht. Auf knapp 450 Seiten wird nicht weniger als 276 Mal
das Gesicht aufgerufen, um es als Sinngeber fungieren zu lassen.
Der Topos der Täuschung, der in der Semantik von Descartes
bis Choderlos de Laclos eine eminente Rolle gespielt hat, ist
dem der Bedeutungsklarheit gewichen. Im Text werden die Gesichtszüge
präzise interpretiert und eindeutigen Gefühlszuständen
zugeschrieben. Trennschärfe bei der Zeichendifferenzierung
und minutiöse Leiblektüre werden als Praxis in der Erzählung
vorgeführt. Es wird eine fiktive Versuchsanordnung hergestellt,
in der Situationen erzeugt werden, aus denen unterschiedliche
Befindlichkeiten hervorspringen und als unterscheidbare Einheiten
im Gesicht zum Zeichen werden. In ihrem Labor der Gefühle
entwickelt Brontë einen Reichtum an distinkten Leidenschaftsdispositionen,
eine, so könnte man sagen, Pathotomie. Ich zähle die
im Text mit einem Begriff benannten Affektbestimmungen, Empfindungen
und Zustände auf, die dem Gesicht entnommen werden:
Argwohn,
Starrsinn, Verliebtheit, Verachtung, Verzweiflung, Vertrauen,
Unschuld, Freimut, Ehrlichkeit, Hass, Boshaftigkeit, Erregung,
Versonnenheit, Gemeinheit, Grimm, Scham, Stolz, Zweifel, Verwirrung,
Gleichgültigkeit, Nachdenklichkeit, Entsetzen, Fassungslosigkeit,
Enttäuschung, Verstörung, Ängstlichkeit, Traurigkeit,
Ernst, Entschlossenheit, Klugheit, Wildheit, Entzücken, Ärger,
Verdutztheit, Nervosität, Jammer, Kindlichkeit, Wut, Schmerz,
Bekümmertheit, Glück, Geringschätzung, Hunger,
Erstaunen, Albernheit, Zorn, Sanftmut, Weinerlichkeit, Rachsucht,
Ergriffenheit, Misstrauen, Schreck, Hohn, Triumphgefühl,
Grausamkeit, Befriedigung, Ärger, Empörung, Grämlichkeit,
Scheinheiligkeit, Säuerlichkeit, Reizbarkeit, Aufmerksamkeit,
Angst, Freude, Hinterhältigkeit, Abscheu, Sehnsucht, Ruhelosigkeit,
Dummheit, Spott, Angewidertheit, Strenge, Niedergeschlagenheit,
Lustlosigkeit, Schüchternheit, Besorgtheit, Dummheit, Teilnahmslosigkeit,
Verzückung, Gequältheit, Müdigkeit, Ungeduld, Verstocktheit,
Trotz, Erbostheit, Wissensdurst.
Das
sind 86 Qualitäten, die durch adjektivierende Spezifizierungen
z.B. "rasende, ohnmächtige Wut" oder "verstörte
Wildheit" noch vermehrt werden. Der hierarchielosen
Ansammlung von Affektqualitäten entspricht eine neue Erkenntnishaltung,
die sich nicht hilfsweise eines überschaubaren Bestands an
grundlegenden Leidenschaftsformen bedient, aus deren Ableitung
und Kombinatorik der unüberschaubare Rest sich ergibt. Man
muss das Einzelne erfahren und ihm Sinn geben. In einer kurzen
Szene des Romans wird dieses Schauen auf das Gesicht zum Thema
gemacht und die Aufmerksamkeit für die Unterscheidung geschärft.
Der junge Heathcliff wird von der Haushälterin Nelly vor
den Spiegel gestellt. Sie sagt:
"Siehst
du diese beiden Linien zwischen deinen Augen und die dichten Brauen,
die in der Mitte absinken, statt sich zu einem Bogen zu wölben,
und diese beiden schwarzen Teufelchen, die so tief in ihren Höhlen
liegen und nie freimütig ihre Fenster öffnen, sondern
funkelnd darunter hervorspähen wie Kundschafter des Satans?
Versuch zu lernen, die finsteren Falten zu glätten, deine
Lider offen und ehrlich aufzuschlagen, und mach aus den Teufelchen
vertrauensvolle, unschuldige Engel, die keinen Argwohn und keinen
Zweifel kennen und stets in allen Freunde sehen, solange sie nicht
sicher wissen, daß es Feinde sind."10
Erkenne
dich und andere: Linien, Augen, Brauen, Lider, Falten, Funkeln
dafür muss man einen Sinn entwickeln. Die Szene
spricht nicht davon, wie die Beredtsamkeit des Leibes herzustellen
sei sie ist immer schon da , in ihr zeigt sich, wie
Ausdruck, innere Befindlichkeit und Natürlichkeit zusammen
gehören. "Ich versuchte, von seinem Gesicht abzulesen
[...]"11 In der singulären Situation ist
das Gesicht vom Rezipienten semiotisch zu strukturieren, um die
Seelenverfassung deuten zu können. Und es ist die optimistische
Botschaft des Romans, dass die Zeichen tatsächlich lesbar
sind: "Es stand ihm ins Gesicht geschrieben [...]"12
Die
Metaphern des Lesens und des Geschriebenen sind kein Hinweis auf
eine mögliche rhetorische Konzeption. Die romantische Sicht
ist gerade eine Verabschiedung der Rhetorizität. Die Mitteilung
geschieht nicht auf der Basis einer intentionalen Lenkung, wie
dies im 18. Jahrhundert angestrebt war. Das Leidenschaftszeichen
emaniert spontan als vor-kulturelle Äußerung der Seele.
Hegel spricht von der "nur seyenden, von ihrer Naturbestimmtheit
noch ungetrennten Seele"13.
Naturbestimmtheit
schließt sowohl bei Brontë wie auch bei Hegel nicht
die Vorstellung ein, dass die Körpersprache als anthropologische
Grundverfassung sich stets unverstellt und lesbar anzeigen würde.
Meine
Bezeichnung des Romans als Labor der Gefühle sollte gerade
das Moment der Nachkonstruktion, des artifiziellen Eingriffs hervorstellen.
Das Labor ist ein Ort zum künstlichen Nachvollzug der Natur.
Emily Brontës Entwurf eines unwirklichen, wilden fiktionalen
Raumes, der keine ausgesprochene Verbindung mit der Welt der städtischen
Zivilisation hat, trägt die Züge des Modellhaften: Störende,
den Versuch verfälschende Einflüsse werden ausgeschaltet,
um die ideale Bestimmung des Natürlichen zu erhalten. Gleich
im ersten Absatz vermeldet der Erzähler: "Ich denke,
in ganz England hätte ich keinen zweiten Ort finden können,
an dem sich so abgeschieden vom gesellschaftlichen Trubel leben
ließ. Ein wahres Paradies für Menschenfeinde [...]."14 Die Sonderstellung von Wuthering Heights im Zeitalter der Industrialisierung,
der großen Städte und des Verkehrs ist damit benannt.
Das Personal ist wie Versuchstiere eingeschlossen
in einen überschaubaren, jedoch kulturfernen Raum, wo die
Leidenschaften nicht durch ausgeweitete Handlungsketten, gesellschaftliche
Interdependenzen, Funktionalitäten und in der Folge durch
verinnerlichte Selbstkontrollapparaturen eingeschränkt sind.15 "Paradies" und "Einöde"16 sind die Synonyme für eine Situation, wo die Personen psychisch
entkleidet werden. Was als psycho-soziale Stukturierung im 19.
Jahrhunderts gelten kann, nämlich die Macht von Verhaltenskonventionen,
ästhetischer Normierung, neutralisierender Kleidung, Schamgefühl,
Unsichtbarkeit in der Privatsphäre, kurz, "Anonymität"
und "Mystifikation der Persönlichkeit"17,
wird in diesem Roman geschwächt oder ausgesetzt. Die männliche
Hauptfigur, Heathcliff, ist ein Findling, ein Kind ohne Familie,
Geschichte und Kultur. Ein Wilder, ein Primitiver. Wie er sind
auch die anderen Figuren ausgesperrt in die Freiheit, wo sie sich
emotional ausleben. Der Leser trifft den Kranken, den Wahnsinnigen,
den animalisierten Menschen, den Ungebildeten, das Kind. Diese
Natur ist nicht erhaben, im Gegenteil, sie ist niedrig oder basal.
Die Unmittelbarkeit ist gleichbedeutend mit Regression. Das agierende
Subjekt gehört einer vorsprachlichen naturalisierten Kultur
des Körpers an.
So
lautet die implizite Botschaft des Romans: Es gibt die krude,
eindeutige, unkultivierte Natur. Aber man muss sie suchen, ihre
Situation kennen, die Hülle der Zivilisation fortreißen.
Anders
als Brontë expliziert Hegel in seinem philosophischen System
die Hierarchie von Natur und überformender Idealität.
Nach Hegel ist die Natur grundlegend, aber sie garantiert nicht
das Menschsein. Für den Philosophen ist die "unfreiwillige
Verleiblichung der inneren Empfindungen" etwas "dem
Menschen mit dem Thieren Gemeinsames".18 Indem
Hegel diese Gemeinsamkeit hervorhebt, setzt er seine theoretischen
Anstrengungen daran schwankend zwischen Deskription und
normaufwerfender Präskription , die Freiheit, das Menschsein
den unwillkürlichen Leibäußerungen abzuringen.
Wie geht Hegel dabei vor? In seiner dialektischen Konstruktion
ist die Leibäußerung notwendig, um den Seeleninhalt
überhaupt zur Empfindung zu bringen. Sie ist gleichsam ein
Meldesystem. Erst über das körperliche Signal wird die
Emotion gegenständlich und damit der Wahrnehmung durch
das Subjekts zugänglich. Das Zeichen vertritt in dieser Hinsicht
das Subjekt und ist gleichzeitig davon geschieden: Objekt.19 Über diese Objektalisierung ist der Weg für die Selbsteroberung
eröffnet. Denken, Reflexivität, Wollen, Verallgemeinerung
und Versprachlichung treten als entzweiende Instanzen auf und
betreiben die Befreiung aus der Unselbständigkeit des Übermächtigtwerdens
durch die Unwillkürlichkeit der Affekte. Der Gegensatz wird
zur Einheit in der Idealität aufgehoben, wo, nach Hegel,
die "wirkliche Seele des Selbst" zu sich und zur Ruhe
gekommen ist.20
Der
hier lediglich im Überflug dargestellte Prozess der Vermenschlichung
des Ausdrucks sollte nicht unerwähnt bleiben, weil sich darin
das hegelsche Konzept eines Menschen zeigt, der Natur ist und
sich gleichzeitig der Natur entfremdet. In Umkehrung bedeutet
dies: Will man den unwillkürlichen, natürlichen Leibausdruck
ermitteln, dann kann dies nicht am Menschen erfolgen, der sich
bereits zur "vermittelten Einheit" einer "für-sich-seyenden
Seele" fortentwickelt hat. In einer Passage macht Hegel deutlich,
was er damit meint:
"Uebrigens
hat der Gebildete ein weniger lebhaftes Mienen- und Geberdenspiel,
als der Ungebildete. Wie Jener dem inneren Sturme seiner Leidenschaften
Ruhe gebietet, so beobachtet er auch äußerlich eine
ruhige Haltung, und ertheilt der freiwilligen Verleiblichung seiner
Empfindungen ein gewisses mittleres Maaß; wogegen der Ungebildete,
ohne Macht über sein Inneres, nicht anders, als durch einen
Luxus von Mienen und Gebehrden sich verständlich machen zu
können glaubt, dadurch aber mitunter sogar zum Grimassenschneiden
verleitet wird, und auf diese Weise ein komisches Ansehen bekommt,
weil in der Grimasse das Innere sich sogleich ganz äußerlich
macht, und der Mensch dabei jede einzelne Empfindung in sein ganzes
Daseyn übergehen läßt, folglich fast wie
ein Thier, ausschließlich in diese bestimmte Empfindung
versinkt."21
Wo
die Kultur abgestreift ist, wo der Mensch fast wie ein Tier sich
darstellt, dort springen die einzelnen, bestimmten Empfindungen
ins Gesicht. In dem Zitat hallt noch ein Rest Klassizismus nach,
der den grimassierenden Menschen niedrig einstuft. Doch hat die
Grimasse auch, und das ist entscheidend, eine Umwertung erfahren.
Mag Hegel sie komisch finden, sie ist für ihn vor allem Träger
deutlicher Leibzeichen. Nur wenige Jahrzehnte vorher galt sie
noch als Ausweis defizitären Ausdrucks oder als Modell bloßer
Hässlichkeit. Ohne Zweifel ist es Hegels Bestreben, den Leib-ausdruck
zu zivilisieren und damit zu mildern. Volles Menschsein realisiert
sich in einer Aufhebung, wo der Geist zur Sprache findet und nicht
mehr auf die seiende Unmittelbarkeit des Körpers angewiesen
ist. Für den Geist ist die "menschliche Gestalt [...]
nur die erste Erscheinung [...], die Sprache dagegen sein vollkommener
Ausdruck."22 Die Forderung nach Idealität
vermischt sich allerdings nicht mit dem analytischen Anspruch,
der auf anthropologischer Ebene seinen Gegenstand hat. Naturanalyse
und Zivilisationssynthese hält Hegel getrennt. Die Natur
finden, heißt: sich ins Jenseits der Sprache begeben. Dies
ist im übrigen auch die Bewegung in Brontës Roman. Die
Figuren sind ausgestattet mit einem reichen Spektrum an Ausdrucksformen
des Gesichts. Aber die Erzählung treibt voran, weil die Charaktere
sich nicht über sprachliche Kommunikation miteinander in
Kontakt bringen können. Dramatische Friktionen, Zerwürfnisse
und stumme Begegnungen mit ausagierenden Gesten sind die Folge.
Es ist allein die Erzählerinstanz, die eine Deutungshoheit
über die Gesichter besitzt und die Körpersprache in
verbale Sprache zu übersetzen weiss. Die handelnden Charaktere
verfügen gar nicht oder nur ungenügend über diese
Kompetenz. Ihre Empfindungen sind, hegelianisch gesprochen, ganz
in ihr Dasein übergegangen und auf diese Weise nicht der
trennenden Erkenntnis zugänglich.
Der
klassizistische Ausdruckstheoretiker und -praktiker repariert
und erhöht die Natur. Brontë und Hegel entkleiden den
zivilisierten Körper, um zum Ausdrucksleib zu gelangen. Was
aber sind die Situationen, wo der Mensch seiner Zivilisationszeichen
entledigt ist und in den animalischen Naturzustand übertritt?
Wo erscheint die Leiblichkeit als ungeschieden von der Geistigkeit?
Im Ungebildeten. Das ist eine Grundfigur, jedoch nicht
die einzige und die wichtigste.
Nach
Hegel sind die pathetischen Bestände in jedweden Abhängigkeits-konstellationen
zu finden. Wie der Fötus, der von der Mutter abhängt
und unfähig zur im "verständigen Bewusstsein wurzelnde[n]
Freiheit"23 ist, so gibt es auch erwachsene Menschen,
die sich der Gewalt des Animalischen nicht zu entziehen vermögen.
Empirischer Beleg ist für Hegel der Verrückte. Er wird
in direkter Nachbarschaft zum Individuum gesehen, das sich dem
Naturzustand nicht entwunden hat. "Der Mensch nun aus seinem
bewußten, besonnenen Leben heruntergefallen in die bloße
Empfindung, so ist er krank."24 In die Reihe der
passiven, widerstandslosen und naturnahen Zustände stellt
Hegel die träumende, somnambulische, mystische, wilde, epileptische
Verfassung. Es sind durchgängig die exotischen, peripheren,
ausgestoßenen Individuen, bei denen die Expressivität
als unkontrollierte Verleiblichung in Erscheinung tritt. Natur,
das ist: Krankheit, Animalität, Wahnsinn, Infantilität.
Wo Langsicht, Zurückhaltung und Selbstobjektivierung fehlen,
dort trifft man auf Natur. Methodisch bedeutet dies: Man muss
Exkursionen ins Wildland wagen, um die naturalisierten Affekte
und Leidenschaften auffinden zu können.
Die
Forschungsreise in die Vororte der Kultur ist bei Hegel und Brontë
theoretisch und fiktiv. Aber es gibt auch die realen Exkursionen
in die Wildnis. Charles Darwin, der epochale Heroe auf dem Gebiet
der Naturphilosophie, erforscht neben vielen anderen Gegenständen
auch Emotionen. Zwar erscheint sein Buch The Expression of
the Emotions in Man and Animal erst 1872, doch beginnt er
mit der Materialsammlung und der Thesenbildung bereits 1838. Er
steht damit historisch zwischen Hegel und Brontë. In einem
Notizheft "voll von Metaphysik und Moral & Spekulation
über Ausdruck"25 kommt er immer wieder auf
die Kinder, die Wahnsinnigen und die Tiere zu sprechen
und auf sich selbst. Das Verrückte der Natur ist nicht nur
in der Ferne, an den Rändern der Zivilisation oder in den
Irrenhäusern zu finden. In einer Passage führt er die
Grundgestalten zusammen und deutet darin die genealogische Verbindung
an.
"Bei
kleinen Kindern zeigen die heftigen Leidenschaften, in die sie
sich steigern, daß es sich dabei um wahrhaft instinktives
Gefühl handelt. Als ich über ein wahnsinniges Wutgefühl
nachdachte, das mich eines Abends überkam, während ich
erschöpft (wie wahr, daß das Herz der Schauplatz der
Wut ist) dem Klavier lauschte, schien es nichts weiter zu sein
als ein Gefühl des Unbehagens, vor allem des Herzens, als
ob erregte Tätigkeit heftige Bewegung begleitete. Ist nicht
vielleicht Leidenschaft das Empfinden (im Gefolge starker muskulärer
Anstrengung), das einen heftigen Angriff begleitet? Sogar der
Wurm krümmt sich, wenn man auf ihn tritt, wobei hier wahrscheinlich
kein Leidensgefühl, sondern muskuläre Anstrengung aufgrund
der Verletzung & folglich erregte Herztätigkeit. Nun
ist dies das älteste Erworbene & und bleibt, wenn die
wirkliche Bewegung nicht stattfindet."26
Die
Gedankenbewegung in ihrer Rasanz ist bemerkenswert von
den Leidenschaften über die Instinkte und beobachtbare physiologische
Vorkommnisse zum "ältesten Erworbenen". Der (von
der Zivilisation?) erschöpfte und bald wahnsinnige Erwachsene,
das leidenschaftliche Kind und der reflexzeigende Wurm werden
einem gemeinsamen Naturraum zugeordnet. In The Expression of
the Emotions wird Darwin diese Verknüpfung mit seiner
ausgearbeiteten Evolutionstheorie begründen und die Naturalisierungskonzeption
radikalisieren. Entscheidend für die Erkenntnis jedoch scheint
zu sein, dass die reinen Grundgestalten auffindbar sind, die noch
nicht vom Rauschen der evolutionären Veränderung und
Verbildung gekennzeichnet sind und die sich als Spuren nachweisen
lassen. Gleichwie Hegel und Brontë lässt Darwin die
Allegorien des Natürlichen paradieren: die Kinder, die Wahnsinnigen,
die Wilden.27
Damit
sind die Medien benannt, an denen die Natur leicht zu ent-decken
ist. Generell jedoch gilt, dass der tierische Ausdruck im menschlichen
ubiquitär ist.
"Sah
einige Zeichnungen bei Lavater [...] von wutverzerrten Gesichtern,
die wie ein übertriebenes, zur Gewohnheit gewordenes Hohnlächeln
beschrieben werden können, wobei die ganze Haut oder die
Muskeln zwischen Augen und Oberlippe zusammengezogen sind; deutliche
Analogie zu einem Panther, den ich im Tiergarten sah, wie er seine
Zähne bleckte, um zu beißen. Das sinnlose Grinsen der
Leidenschaft ist wie bei einer Hyäne das Grinsen aus Furcht,
ohne daß sie im Augenblick die Absicht hätte zu beißen,
nichts weiter als Symbol der Bereitschaft und wird deshalb in
extremer Form ausgedrückt."28
Hegel,
Brontë und Darwin in eine Reihe zu stellen, provoziert die
Auflistung all dessen, was sie unterscheidet: die Grenres, die
Haltungen, die Konzeptionen. Der Versuch, den Dialog über
die Differenz hinweg zwischen den Beteiligten zu inszenieren,
zeigt die Durchschlagkraft einer grundlegenden Epochensignatur:
Natur als ultimativer Zustand reinen Ausdrucks.
Charles Darwin: The Expression of the Emotions, 1872
Um
aber die Unterschiede nicht vollständig einzuebnen, ist auf
eine Eigenheit des wissenschaftlichen Diskurses zu verweisen,
die Darwin bereits in seinen Notizbüchern spielen lässt.
Entscheidend bei der Behandlung der Ausdrucksbewegungen sind:
Unmittelbarkeit der Darstellung, empirischer Reichtum, Genauigkeit
der Beobachtung. Die Abgrenzung zu den Darstellungsmodi Hegels
und Brontës ist deutlich: Hegels Leistung ist die propädeutische
Andeutung und die abstrahierende Theoretisierung. Brontë
entwickelt in ihrem Roman zwar ein reiches Deutungsvokabular für
die Ausdrucksbewegungen, aber sie vermeidet fast durchgehend eine
detailorientierte Schilderung der Antlitze. Die Sinnlichkeit des
Gesichts und seiner Ausdrücke wird weder vom Philosophen
noch von der Autorin in Sprache gesetzt. Der wissenschaftliche
Anspruch, den Gegenstand zu erfassen, gestaltet sich bei den Gesichtsbewegungen
in der Tat als schwierig einzulösendes Unterfangen. An diesem
Punkt bekommt die Ikonografie einen ersten wichtigen Funktionswert.
Darwin bezieht sich in seinem Statement aus dem Jahre 1838 auf
Abbildungen bei Lavater. Dieser hatte bereits am Ende des 18.
Jahrhunderts eine riesige Bildsammlung für seine physiognomischen
Untersuchungen angelegt. Darwin, der auf der Beagle-Exkursion
enorme Mengen naturkundlicher Gegenstände gesammelt hatte,
beginnt spätestens 1869 damit, emotionale Ausdrücke
in Form von Bildern, vor allem Fotografien zu sammeln, die er
für seine Publikation verwenden wird.29 Der Einsatz
der Fotografie in The Expression of the Emotions stellt
in drucktechnischer Hinsicht eine Erneuerung dar: es ist das erste
wissenschaftliche Buch mit Heliotypien. Als paradigmatische Neuerung
in der wissenschaftlichen Diskursbildung haben Bilder aber längst
ihren Platz gefunden. In der Ausdrucksforschung haben Bell, Esquirol,
Morison, Baumgärtner, Diamond, Hering, Duchenne de Boulogne
das Feld bereitet. (Ist es ein Zufall, dass die meisten dieser
Forscher als Irrenärzte arbeiten? Das Asyl als Ort ursprünglicher
Ausdruckserkundung?) Die Bilder suchen die Körpernähe.
Und: Sie sind nicht wie bei Le Brun, Parsons oder Camper
bescheidene Beifügungen zum Eigentlichen der theoretischen
Abhandlung. Im quantitativen Zuwachs deutet sich an, dass die
Abbildungen die subalterne Funktion verlassen haben, wenige grundlegende
Formen zu repräsentieren. Jetzt sind sie zu Stellvertretern
der Wirklichkeit ernannt worden.
1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, System
der Philosophie. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes [1845], Stuttgart 1965, 148.
2 Ebenda, 155.
3 Siehe auch die von den Herausgebern kompilierte Bibliographie
der anthropologischen und psychologischen Titel in Hegels Bibliothek
in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die
Philosophie des Geistes [1827/1828], herausgegeben von Franz
Hespe, Burkhard Tuschling, Hamburg 1994, 313-316.
4 Hegel, System, 127.
5 Ebenda, 128.
6 Ebenda, 246.
7 Ebenda, 146.
8 Ebenda, 249.
9 Siehe "Vor der Wissenschaft", In: Gunnar Schmidt,
Das Gesicht. Eine Mediengeschichte, Paderborn 2003
10 Emily Brontë, Sturmhöhe [1847], München
1998, 78.
11 Ebenda, 275.
12 Ebenda, 402.
13 Hegel, System, 246.
14 Brontë, 7.
15 Siehe Norbert Elias, "Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation",
in: ders., Über den Prozeß der Zivilisation,
Band 2, Frankfurt/M. 1979, 312-454.
16 Ebenda.
17 Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen
Lebens, Frankfurt/M. 1983, 190, 195.
18 Hegel, System, 247.
19 Siehe ebenda, 138.
20 Hegel, Vorlesungen, 133.
21 Hegel, System, 250.
22 Ebenda, 246.
23 Ebenda, 193.
24 Hegel, Vorlesung, 93.
25 Charles Darwin, Sind Affen Rechtshänder?, übersetzt
und herausgegeben von Henning Ritter, Berlin 1998, 8.
26 Ebenda, 29.
27 Charles Darwin, The Expression of the Emotions in Man and
Animals [1872], 3rd Edition, London 1998, 20, 22-23,
230.
28 Darwin, Affen, 87-88.
29 Siehe Phillip Prodger, An Annotated Catalogue of the Illustrations
of Human and Animal Expressions from the Collection of Charles
Darwin, Lewiston 1998. Ders., "Photography and The
Expression of the Emotions", in: Darwin, Expression,
399-415.
©
Gunnar Schmidt.
*In: Das Gesicht. Eine Mediengeschichte, Paderborn 2003.
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