Anfangen — ohne Ende. Samuel Becketts "Breath"

"Breath" inszeniert von Damien Hirst, 2000

Vorstellungen
"A voice comes to one in the dark. Imagine."1

Mit diesem Satz beginnt Beckett seinen Kurzroman Company. Mit einer Stimme, einem Schrei in der Halbdunkelheit lässt Beckett auch sein Stück "Breath" [1969] beginnen — und wieder enden. Wo der Roman einer Atmosphäre Platz gibt, dort lässt das Stück kaum Zeit für die Vorstellung oder die Imagination. Denn das Stück währt nur wenig mehr als die Länge zweier Atemzüge.

Das Stück:

Curtain

1. Faint light on stage littered with miscellaneous rubbish. Hold about five seconds.

2. Faint brief cry and immediately inspiration and slow increase of light together reaching maximum together in about ten seconds. Silence and hold about five seconds.

3. Exspiration and slow decrease of light together reaching minimum together (light as in 1) in about ten seconds and immediatly cry as before. Silence and hold about five seconds.

Curtain

Rubbish

No verticals, all scattered and lying.

Cry

Instant of recorded vagitus. Important that two cries be identical, switching on and off strictly synchronized light and breath.

Breath

Amplified recording.

Maximum Light

Not bright. If 0=dark and 10=bright, light should move from about 3 to 6 and back.2

Ursprünglich war "Breath" eine Auftragsarbeit für die erotische Revue Oh! Calcutta!. In der Funktion einer Eröffnungsszene oder eines Vor-Spiels ist das Stück eine ironische Geste, die jede Erwartung, die ein Besucher an eine erotische Revue hat, enttäuschen muss. In der Knappheit und Armut verweigert es jede imaginäre Befriedung.3 Offenkundig ist Becketts Prolog eine Antithese zum Zirkus, Spektakel, zur Frivolität und zur lauten Attitüde. Ein Scherz also, ein kleiner Protest gegen den Konsumismus, gegen den Wunsch nach dem Bild, dem Körper? Die Sache ist zu ernst, denn es geht auch um den Tod. "On entre, on crie/Et c‘est la vie./On crie, on sort,/Et c‘est las mort."4 Diese Verse zitiert Beckett in einem Brief als lakonischen Nachhall auf sein Stück, um zu sagen, worum es geht.

Das Leben, der Tod — was hat die Kunst in 35 Sekunden dazu zu sagen? Anders: Was macht das Drama, wenn das Dramatische nicht mehr existiert?

Anfänge
Die kurze Zeit zwischen dem wiederholten Schrei zeigt und gibt zu hören einen Anfang ohne Fortgang. Alles schließt sich, kaum dass es begonnen hat.

Das Stück hat keine Zeit, Geschichte zu machen, Welt zu evozieren. Stattdessen bringt es die Zeit des Anfangens im Modus des verdichteten Plurals auf die Bühne: Es sind mehrere Anfänge, die dieses Stück in sich trägt. Dieses scheinbar leere, kurze, personenlose Werk ist schwanger mit Anfängen.

1. Anfang: Der Körper — die Geschichte. Schrei, Atem, Licht. Das ist die Geburt. Mit dem Schrei beginnen: Was soll der Zuschauer zu hören bekommen, am Anfang, wenn es im Text lediglich heißt: "cry". Das sagt sehr wenig oder zuviel. Beckett präzisiert, was er meint, mit einer ungewöhnlichen Ersetzung oder Übersetzung. Er beschreibt den Schrei nicht, sondern charakterisiert ihn, indem er vom Englischen ins Lateinische wechselt. "Instant of recorded vagitus."5 heißt es in der Regieanweisung. Vagitus, das ist der Schrei des Neugeborenen. Ein Wort genügt Beckett zur inhaltlichen Bestimmung. Es scheint, als medikalisiere Beckett die Sprache6, um sie zu präzisieren.

Der Wechsel von der Konnotation zur Denotation ist — auf der Textebene — die eigentliche thematische Eröffnung des Stückes: Denn dieser Schrei des Neugeborenen ist in der Wortbedeutung ein Wimmern, fast ein Röcheln oder Atemrasseln.7 Ausdruck des Schmerzes, der noch nicht Schrei ist. Der Schrei, in seiner expressiven Bedeutung, das wäre schon eine (Selbst-)Behauptung, die den Anfang hinter sich gelassen hat. Soweit geht Beckett nicht. Sein Anfang ist klein, vage, unausgefüllt. In diesem Sinne provoziert dieser aufgeschriebene Signifikant8, vagitus, weitere Assoziationen, die das Thema des Beginnens stützen: vagus/vage (engl. vague), unbestimmt; Vagina/Scheide.9 Und: vag/itus; itus, das Gehen, der Gang, die Abreise. Die Scheide öffnet sich für das Neugeborene — hinaus, fort —, das noch unbestimmt ist. Was wird es einmal sein, nachdem es gegangen ist?

So lässt Beckett zwar hören und sehen den Moment der ersten Differenz: Vom Dunkel ins Helle, von den Tönen zur Stimme, vom Schutz zum Schmerz, von der Wärme in die Kälte. Aber knüpft sich daran schon Ausdruck und Bedeutung? Dieser Moment ist umnachtet, dunkel; niemand hat daran eine Erinnerung. Beckett führt uns vor die Erinnerung, vor die Geschichte, an den Anfang von Geschichte/Geschichten, dorthin, wo der Körper noch nicht Subjekt, ohne Expression ist.

2. Anfang: Die Sprache. Schrei, Atem. Wir entschließen uns nicht zu atmen oder zu schreien, wir entschießen uns nicht, nicht zu atmen oder nicht zu schreien.

Es schreit, es atmet.

Kann man deshalb sagen, dass der Schrei und der Atem nur vegetative Funktion erfüllen? Mehr als Körper, weniger als Sinn? Richten sie sich an jemanden — trotz ihrer Unwillkürlichkeit, ihrer Absichtslosigkeit? Anfang der Sprache, Anfang der Rede? Beckett bringt uns an die Stelle vor der Sprache, an die Stelle, wo Körper und Zeichen noch ganz nah beieinander sind, wo der Sinn gerade erst beginnt, sich aus dem Körper zu reißen. Atem, Stimme — ohne das gibt es keine Rede, keine Kommunikation. Aber sie sind vielleicht mehr als nur die Bedingung von Sprache, sie sind das, was in die Sprache eingehen wird — als unbeachteter körperlicher Anteil. Das, was überhört wird.

Im Jahre 1937 schreibt Beckett einen Brief; darin heißt es (fast) programmatisch:

"Und immer mehr wie ein Schleier kommt mir meine Sprache vor, den man zerreissen muss, um an die dahinterliegenden Dinge (oder das dahinterliegende Nichts) zu kommen. (...) Gibt es irgendeinen Grund, warum jene willkürliche Materialität der Wortfläche nicht aufgelöst werden sollte (....)?"10

Zurück, dahinter, an den Anfang. Auch mit dem Anfang muss begonnen werden. Vorhang, Schleier auf. Dahinter: der Schrei, der Atem.

Mit dem ersten Atem, mit dem ersten Schrei ist immer ein Schnitt mitzudenken. Durchtrennung der Nabelschnur. Schnitt in den Körper, Schnitt zwischen zwei Körper, Schnitt zwischen Körper und Sinn? Das macht Schmerz, Verzweiflung, vielleicht auch Lust. Soll also etwas entschieden werden: schneiden, scheiden, entscheiden?11 Das ist nicht klar, ganz und gar nicht klar. Der Text sagt nichts dazu. Das Stück gibt nur zu hören und zu sehen.

Es bleibt dabei: Atem, Stimme — das sind Signale der Trennung ohne Sprache zu sein. Ich nenne sie Zeichen, besser: Proto-Zeichen, d.h., genetisch gesprochen, Zeichen vor den Zeichen. Beckett bringt auf die Bühne die Geburt der (Vor-)Sprache aus dem Körper — ein Körper, der schon nicht mehr auf der Bühne erscheint. Abgeschnitten. Der Ton, der Klang verlässt den Körper, überlässt sich der Enteignung. Diese Theatralisierung, diese Tele-Fonie, die den Klang vom Klangkörper trennt, bringt uns auf die Spur der Bedeutung des Vorbedeutungshaften.

3. Anfang: Der Mythos. "Breath" ist ein Text über einen Text, der vom Anfang erzählt und selber Anfang ist: Genesis.

Ich zitiere den Anfang:

"1. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
2. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster aus der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.
3. Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht.
4. Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis
5. und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag."
12

Wir finden in Becketts Stück die Elemente, die auch diesen Anfangstext ausmachen: Es gibt das Licht, das auf die Bühne kommt, in dessen Schein das Durcheinander, das thohu wa-bhohu, die Leere und Verlassenheit sichtbar werden. Becketts Wüste besteht aus "miscellaneous rubbish (...) all scattered and lying".13 Beckett, der sonst sehr genau anweist, bleibt hier ungenau — jedoch in einem präzisen Sinn. Er verbietet explizit "verticals", also Dinge, die hervorragen, die deutlich, die Gestalt oder Symbol sind. Er weiß, dass auf der Bühne sich nichts zeigen darf, das irgend einen Sinn, eine Funktion, eine Geschichte hätte. Beckett will Ungeschiedenes, Vages sehen lassen.

Mit diesem Bühnen-Environment wird der Bibeltext pervertiert. Der mythische Sinn wird profaniert, denn das thohu wa-bhohu ist nicht die Ursuppe, aus dem die Welt erstehen wird, sondern Abfall, Schund, das allerweltliche Ende.

Neben Licht und Wüstenei tritt ein drittes Element hinzu, durch dessen Einsatz der Autor eine weitere Drehung am biblischen Mythos vornimmt: Schwebt in der Bibel der Geist Gottes auf dem Wasser, ertönt in "Breath" der Atem und der Schrei — gerade dem (Frucht-)Wasser entkommen — über dem Müll. Auch wenn Becketts Stück gottleer ist, so bringt das Bibelfragment als referenzieller Subtext dennoch eine Konnotation in jenes Wort, das dem Stück den Titel gegeben hat. Denn zwischen Atem und Geist besteht eine enge semantische Beziehung. In der hebräischen Bibel heißt Geist ruach, was aber auch mit Hauch oder Atem übersetzt werden kann. Ähnlich verhält es sich im Lateinischen, wo anima Seele bedeutet und sich vom Griechischen anemos ableitet, was der Wind ist. Mit dem Atem und dem Wind kommt immer die Seele oder der Geist. So sprechen wir nicht zufällig davon, dass uns Leben eingehaucht wird oder wir das Leben aushauchen. Aus dem Mund kommt die Seele; sie verbreitet sich, findet ein Ohr — oder verhallt in der Wüste. Dann stirbt sie.

Der biblische Geist ist beredt. "Und Gott sprach" heißt es im Buch Mose. Wort und Geist bilden eine Union oder sind gar synonym zu verstehen. Bei Beckett hingegen erklingt kein Wort; sein Atem, seine Seele, sein Geist ist stumm. Er bringt keine Unterscheidungen in die Welt, wie er auch keine Welt erschafft. Dieser Geist ist am Nullpunkt — der Schöpfung, der Kommunikation, des Ausdrucks. Man könnte sagen, der Beckettsche Atem korrespondiert mit der Wüste auf der Bühne; er ist der Wind, der über das Ungeordnete, Chaotische weht und selber Unordnung und Entropie bezeugt. Denn der Atem ist nichts als ein Rauschen, also genau das, was — kommunikationstheoretisch gesprochen — Feind jeder Verständigung ist.

Anders als in der Bibel, ersteht keine Welt, keine Ordnung. Es gibt zwischen Tag und Nacht keine Geschichte, keine Entwicklung, keine Klärung, keine dramatische Zuspitzung. Nichts bewegt sich. Die Seele/der Atem richtet nichts aus. Die Schöpfung sistiert: Am Ende, nach dem Ausatmen, steht der wiederholte identische Schrei. Alles fällt zurück, ins Dunkel, von wo es kam. Keine Differenz, kein Ereignis. Beckett geht an den Anfang — doch ist sein Ende kein Fortkommen, kein Wachsen, kein Entstehen. Paradox formuliert: das ereignislose Ereignis.

Ich zitiere aus Westward Ho eine kurze Passage, die diese Festklammerung, dieses Nicht-in-die-Geschichte-kommen-können bespricht: "Say a body. Where none. No mind. Where none. That at last. A place. Where none. For the body. To be in. Move in. Out of. Back into. No. No out. No back. Only in. Stay in. On in. Still."14

Steckenbleiben. Die Reise nicht beginnen. Noch nicht Köper sein, nicht Geist, ortlos.

Ist das die Depression? Oder die pessimistische Absage an die Erlösung? Oder die Einsicht in einen Kampf, der hinter der Illusion von Freiheit und Fortschritt wütet?

Körper, Geist, Ort — das sind die Stichworte, die uns Beckett zur Meditation aufgibt. Wie kommen sie in die Welt, wie entsteht das eine aus dem anderen?

Vor-Orte
Warten auf ... Gott? Warten auf den Tod? Wer wartet, dem fehlt die Opposition, ein Punkt außerhalb. Beckett inszeniert die Unsicherheit, die aus diesem Mangel entsteht. Es gibt keine Selbsterschaffung. Ohne Opposition bleibt das, was Seele, Geist, Subjekt werden soll, ein Rohstoff, eine rauschende Welle.15 Dieses Noch-Nicht erschafft nichts, wenn es nicht erschaffen wird. Die Stimme, das Licht — sie sind ohne Versicherung, ohne Konstanz, ohne Ort.

"By the voice a faint light is shed. Dark lightens while it sounds. Deepens when it ebbs."16

Jemand liegt unbeweglich im Dunklen. Die Stimme leistet Gesellschaft, Company. Die Stimme hören, dem Licht gehören. Ich denke an die von Freud mitgeteilte Szene:

"Ein Kind, das sich in der Dunkelheit ängstigte, hörte ich ins Nebenzimmer rufen: 'Tante, sprich doch zu mir, ich fürchte mich.' 'Aber was hast Du davon? Du siehst mich ja nicht'; darauf das Kind: 'Wenn jemand spricht, wird es heller.'"17

Das Kind findet Sicherheit in der Stimme, denn es kennt den Sprecher. Anders bei Beckett. Die Stimme hat keinen sicheren Ort. Daraus entspringt die prinzipielle Ungewissheit für den unsichtbaren Namenlosen. Alles war vielleicht nur eine Halluzination. Becketts Motiv des Lichts und der Stimme, die aus undurchdringlichem Dunkel kommen, ist religiös — jedoch ohne den Trost der Religion.

In "Breath" ist die Stimme, der Atem ebenfalls ortlos. Unbenennbarer Ursprung. Die Bühne bringt einen Ort vor Augen, an dem nicht zu leben ist, weil es dort kein identifizierbares Leben, keine Opposition gibt.

Sprachlos, unbestimmt. Das Wimmern, das diffuse Licht, die kurze Zeit der Betrachtung — sie geben dem Zuschauer keine Welt.

Die Unbestimmtheit des Wahrgenommenen, die Topografie des Nicht-Ortes. Der verstreute Müll im Halbdunkel der Bühne von "Breath" zeigt eine Gegebenheit, wie sie im Oeuvre Becketts immer wieder vorkommt: der ziellose Weg, die einsame Kammer, der Erdhügel, das Bett, der Schaukelstuhl, die Tonne, das Quadrat, die Dunkelheit, etc. Diese Gegebenheiten sind allesamt ortlose Orte.

Was ist ein ortloser Ort?

"Ein Ort ist ein Punkt mit einer Umgebung." So definiert Michel Serres den Begriff und schreibt weiter: "Die Landschaft versammelt Orte."18 Becketts Orte haben keine Umgebung, keine Landschaft. Deshalb nenne ich sie ortlose Orte oder Vor-Orte. Sie sind ausweglos, ohne Markierungen.

"Disappear again and reappear again at another place again. Or at the same. Nothing to show not the same."19

Der ortlose Ort erlaubt trotz Bewegung keine Entgrenzung. Das ereignislose Ereignis realisiert sich hier als Wiederholung, Ritual, als Erschöpfung.20 Die Orte stellen Verlassenheiten dar, die nicht verlassen werden können. Manchmal gibt es Fenster, den Himmel, die Erinnerung; sie lassen noch ahnen oder sehen, dass es ein Außerhalb, Umgebung, den Anders-Ort gibt. In "Breath" jedoch glimmt nur kurz das zeichenlose Licht auf, das wie eine Aura etwas anzukündigen scheint, das nie kommen wird: der Tag, der Himmel, das Bild im Fenster, die Erinnerung, der andere. Wie die Stimme und der Atem ist dieses Licht Bedingung, Rohstoff, Beginn — ohne Entwicklung: Es gibt kein Bild.

So ist die empfängliche Seele ohne Versicherung und am Ende, am Anfang armselig.

Zeit unterscheiden
Die Spieldauer von "Breath" beträgt 35 Sekunden. Diese reale Dauer ist überraschend. Ist sie zu deuten als Absage an das Theater, ans Drama, an die dröhnenden Schritte schwerer Körper auf hölzerner Bühne, an die Dialoge und Monologe? Oder — im Gegenteil — ist die Kürze als ein Anfangen zu verstehen? Mit dem Drama beginnen — ohne es zu Ende zu führen. Wie immer man es versteht: Die Realzeit von 35 Sekunden provoziert symbolische Zeit. Folgen wir dem Gesagten, folgen wir von Anfang zu Anfang, dann verdichtet Beckett die Zeit von zwei Atemlängen mit der Zeit vom ersten bis zum letzten Atem, die ein Leben einfasst, mit der Zeit der Erdgeschichte und der Menschheit. Beckett geht aufs Ganze.21 Und gibt ihm gleichzeitig keine Chance. Das Stück entscheidet sich nicht, unterscheidet nicht zwischen dem Moment und der Ewigkeit, zwischen Anfang und Ende. Physikalische Zeit, erlebte Zeit, mythische Zeit — Beckett entlässt uns nicht in die Entscheidung.

An die Stelle rückt das ereignislose Ereignis, die spiegelbildhafte Symmetrie des Geschehens: Vorhang, Schrei, Atem, Stille, Atem, Schrei, Vorhang. Die Symmetrie schwebt über den Resten, den Abfällen, sie berührt sie nicht. Einatmen, Inkorporation, Licht, Inspiration — Beseelung? Nein. Der Prozess des Zusammentreffens von Leben und Welt zeigt keine wirkliche Veränderung, keine Produktion. Er wird lediglich verkehrt: Ausstoßung, Dunkelheit, Exspiration — das Leben aushauchen.

Das Ereignis, wie ich es verstehe, hat keine Symmetrie; es wirft uns hinaus, macht wach, verzweifelt, begierig, offen, kämpft mit den Resten.

"(...) das Kommende indessen, das Vorausweisende, herrscht im Rest: Er ist mein Zufall, meine Zeit, meine Geschichte, mein Leben. Was würde ich ohne ihn machen? Ich lebte nicht länger in meinem Kopf, wäre vielleicht ein Insekt, geometrisch, angepasst.
Wir hoffen auf die Abweichung — das erzeugt die Zeit. Sie bringt uns aus dem Gleichgewicht, destabilisiert uns. Daher unser Treiben, unsere Geschichte, Odysseus’ Irrfahrten, in widrigen Winden, Kolumbus gen Amerika, der Drang nach Westen, das Abenteuer Wissenschaft. Nie bleiben wir stehen, stöbern ständig mit der Nase im Gestrüpp, mit den Füßen im unberührten Dreck."
22

Auf nach Westen, Westward Ho? Bei Beckett ist — im Gegensatz zu Serres — der Aufbruch immer eine Parodie oder vom Scheitern gekennzeichnet. Zwar gibt es bei ihm auch Zeit, Dreck oder Rest. Doch sind die zirkuläre, ereignislose, geometrische Zeit — Zeit ohne Abweichung — und der unberührbare Dreck zu wenig, um Körper, Geist oder Seele, Ort und geschichtliche Zeit hervorzubringen. Unbeirrt und kontaktlos geben sie nichts her.

Diesem Stück, so meine Abschlussthese, ist die Gewalt der Ambivalenz eingeschrieben: Der Atem, der das Licht und die Zeit strukturiert, ist Negation und gleichzeitig Voraussetzung — von und für was? Leben, Kommunikation, Ausdruck, Geschichte, Tod. Beckett zeigt die Geburt, die nicht zu Ende gebracht wird. Der Schnitt wird gesetzt und rückgängig gemacht.

Darin liegt die Gewalt — dass es keine Entscheidung gibt.


1 Samuel Beckett: "Company", in: ders., Nohow On, New York 1996, S. 3.

2 Samuel Beckett: "Breath", in: ders., The Complete Dramatic Works, London, Boston 1990, S. 371.

3 Tatsächlich kam es nach der Erstaufführung zum Streit zwischen Beckett und dem Produzenten, der es zugelassen hatte, daß nackte Leiber mit dem Müll auf der Bühne lagen. In der Folge ließ Beckett jede weitere Aufführung in Verbindung mit der Revue untersagen. Siehe dazu James Knowlson: Damned to Fame. The Life of Samuel Beckett, London 1996, S. 565-566.

4 Zit. n. Knowlson: Damned, S. 565-566.

5 Beckett: "Breath", S. 371.

6 "vagitus uterinus", damit ist das Schreien der noch nicht geborenen Kinder im Uterus gemeint, wenn nämlich Luft in denselben gelangt, wodurch das vorzeitige Atmen ermöglicht wird. Vgl. unter diesem Eintrag Medizinische Terminologie, bearbeitet von Herbert Volkmann, Berlin/München 1947. Generell: In den Texten Becketts finden sich immer wieder medizinische Terme, die Krankheiten bezeichnen.

7 In einem Brief spricht Beckett von "a tiny vagitus-rattle". rattle bedeutet Röcheln, Atemrasseln. Vgl. Knowlson, Damned, S. 565.

8 Hier zeigt sich sinnfällig, dass sehen/hören und lesen einen Unterschied machen.

9 Dieser Hinweis stammt von Hans Naumann (Hamburg), bei dem ich mich nicht nur für diese, sondern auch für weitere Anregungen bedanke.

10 Samuel Beckett: Disjecta, London 1983, S. 52.

11 Vgl. Michel Serres: Der Hermaphrodit, Frankfurt/M. 1989, S. 49.

12 1. Buch Mose, 1-5.

13 Beckett: "Breath", S. 371.

14 Samuel Beckett: Westword Ho, Frankfurt/M. 1989, 7. "Ein Körper sagen. Wo keiner. Kein Geist. Wo keiner. Wenigstens das. Ein Ort. Wo keiner. Für den Körper. Wo er sein kann. Wo hinein. Von wo hinaus. Wohin zurück. Nein. Kein Hinaus. Kein Zurück. Nur hinein. Darin bleiben. Weiter drin. Noch immer."

15 Einatmen/ausatmen, das ist auch als Welle zu hören, die heran- und abläuft. Und es ist darauf hinzuweisen, das im Französischen vague Welle, Woge bedeutet.

16 Beckett: "Company", S. 12.

17 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Studienausgabe, Bd. I, Frankfurt/M. 1969, S. 393.

18 Michel Serres: Die fünf Sinne, Frankfurt/M. 1993, S. 323.

19 Samuel Beckett: Stirrings Still, Frankfurt/M. 1991, S. 14. "Wieder verschwinden und wieder an einem anderen Ort wieder erscheinen. Oder demselben. Kein Zeichen daß nicht derselbe."

20 Vgl. Gilles Deleuze: "Erschöpft", in: Samuel Beckett: Quadrat. Stücke für das Fernsehen, Frankfurt/M. 1996, S. 51-101.

21 An dieser Stelle ist auf eine Performance des Minimalkünstlers Robert Morris aus dem Jahre 1961 hinzuweisen, die eine strukturelle Ähnlichkeit mit Becketts Stück aufzuweisen scheint: Morris läßt auf einer Bühne einen Vorhang aufgehen. Eine graue Sperrholzsäule wird freigegeben. Nichts weiter. Dreieinhalb Minuten vergehen. Plötzlich fällt die Säule. Wieder vergehen dreieinhalb Minuten. Der Vorhang schließt sich.

22 Der Unterschied zu Beckett liegt im Detail: Morris zeigt ein Ereignis ohne Details, ohne Symbolizität. Ich folge hier Georges Didi-Huberman, der im Minimalismus den Versuch erkennt, ein Objekt erstehen zu lassen, das nur für sich steht und jegliche Imagination, Metaphorizität und Metaphysik auszublenden sucht. Verknappend könnte man sagen: Beckett ruft das Sakrale auf, Morris die Physik. Vgl. Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an, München 1999.

23 Michel Serres: Ablösung, München 1988, 16.

© Gunnar Schmidt.
*In: Gunnar Schmidt, Mikrologien, Bielefeld 2003