Vorstellungen "A voice comes to one in the dark. Imagine."1
Mit
diesem Satz beginnt Beckett seinen Kurzroman Company. Mit
einer Stimme, einem Schrei in der Halbdunkelheit lässt Beckett
auch sein Stück "Breath" [1969] beginnen und wieder
enden. Wo der Roman einer Atmosphäre Platz gibt, dort lässt
das Stück kaum Zeit für die Vorstellung oder
die Imagination. Denn das Stück währt nur wenig mehr
als die Länge zweier Atemzüge.
Das
Stück:
Curtain
1.
Faint light on stage littered with miscellaneous rubbish. Hold
about five seconds.
2.
Faint brief cry and immediately inspiration and slow increase
of light together reaching maximum together in about ten seconds.
Silence and hold about five seconds.
3.
Exspiration and slow decrease of light together reaching minimum
together (light as in 1) in about ten seconds and immediatly cry
as before. Silence and hold about five seconds.
Curtain
Rubbish
No
verticals, all scattered and lying.
Cry
Instant
of recorded vagitus. Important that two cries be identical, switching
on and off strictly synchronized light and breath.
Breath
Amplified
recording.
Maximum
Light
Not
bright. If 0=dark and 10=bright, light should move from about
3 to 6 and back.2
Ursprünglich
war "Breath" eine Auftragsarbeit für die erotische Revue Oh! Calcutta!. In der Funktion einer Eröffnungsszene
oder eines Vor-Spiels ist das Stück eine ironische Geste,
die jede Erwartung, die ein Besucher an eine erotische Revue hat,
enttäuschen muss. In der Knappheit und Armut verweigert es
jede imaginäre Befriedung.3 Offenkundig ist Becketts
Prolog eine Antithese zum Zirkus, Spektakel, zur Frivolität
und zur lauten Attitüde. Ein Scherz also, ein kleiner Protest
gegen den Konsumismus, gegen den Wunsch nach dem Bild, dem Körper?
Die Sache ist zu ernst, denn es geht auch um den Tod. "On entre,
on crie/Et cest la vie./On crie, on sort,/Et cest
las mort."4 Diese Verse zitiert Beckett in einem Brief
als lakonischen Nachhall auf sein Stück, um zu sagen, worum
es geht.
Das
Leben, der Tod was hat die Kunst in 35 Sekunden dazu zu
sagen? Anders: Was macht das Drama, wenn das Dramatische nicht
mehr existiert?
Anfänge Die kurze Zeit zwischen dem wiederholten Schrei zeigt und
gibt zu hören einen Anfang ohne Fortgang. Alles schließt
sich, kaum dass es begonnen hat.
Das
Stück hat keine Zeit, Geschichte zu machen, Welt zu evozieren.
Stattdessen bringt es die Zeit des Anfangens im Modus des verdichteten
Plurals auf die Bühne: Es sind mehrere Anfänge, die
dieses Stück in sich trägt. Dieses scheinbar leere,
kurze, personenlose Werk ist schwanger mit Anfängen.
1.
Anfang: Der Körper die Geschichte. Schrei, Atem,
Licht. Das ist die Geburt. Mit dem Schrei beginnen: Was soll der
Zuschauer zu hören bekommen, am Anfang, wenn es im Text lediglich
heißt: "cry". Das sagt sehr wenig oder zuviel. Beckett präzisiert,
was er meint, mit einer ungewöhnlichen Ersetzung oder Übersetzung.
Er beschreibt den Schrei nicht, sondern charakterisiert ihn, indem
er vom Englischen ins Lateinische wechselt. "Instant of recorded
vagitus."5 heißt es in der Regieanweisung. Vagitus,
das ist der Schrei des Neugeborenen. Ein Wort genügt Beckett
zur inhaltlichen Bestimmung. Es scheint, als medikalisiere Beckett
die Sprache6, um sie zu präzisieren.
Der
Wechsel von der Konnotation zur Denotation ist auf der
Textebene die eigentliche thematische Eröffnung des
Stückes: Denn dieser Schrei des Neugeborenen ist in der Wortbedeutung
ein Wimmern, fast ein Röcheln oder Atemrasseln.7 Ausdruck des Schmerzes, der noch nicht Schrei ist. Der Schrei,
in seiner expressiven Bedeutung, das wäre schon eine (Selbst-)Behauptung,
die den Anfang hinter sich gelassen hat. Soweit geht Beckett nicht.
Sein Anfang ist klein, vage, unausgefüllt. In diesem Sinne
provoziert dieser aufgeschriebene Signifikant8, vagitus,
weitere Assoziationen, die das Thema des Beginnens stützen:
vagus/vage (engl. vague), unbestimmt; Vagina/Scheide.9 Und: vag/itus; itus, das Gehen, der Gang, die Abreise. Die Scheide
öffnet sich für das Neugeborene hinaus, fort
, das noch unbestimmt ist. Was wird es einmal sein, nachdem
es gegangen ist?
So
lässt Beckett zwar hören und sehen den Moment der ersten
Differenz: Vom Dunkel ins Helle, von den Tönen zur Stimme,
vom Schutz zum Schmerz, von der Wärme in die Kälte.
Aber knüpft sich daran schon Ausdruck und Bedeutung? Dieser
Moment ist umnachtet, dunkel; niemand hat daran eine Erinnerung.
Beckett führt uns vor die Erinnerung, vor die
Geschichte, an den Anfang von Geschichte/Geschichten, dorthin,
wo der Körper noch nicht Subjekt, ohne Expression ist.
2.
Anfang: Die Sprache. Schrei, Atem. Wir entschließen
uns nicht zu atmen oder zu schreien, wir entschießen uns
nicht, nicht zu atmen oder nicht zu schreien.
Es
schreit, es atmet.
Kann
man deshalb sagen, dass der Schrei und der Atem nur vegetative
Funktion erfüllen? Mehr als Körper, weniger als Sinn?
Richten sie sich an jemanden trotz ihrer Unwillkürlichkeit,
ihrer Absichtslosigkeit? Anfang der Sprache, Anfang der Rede?
Beckett bringt uns an die Stelle vor der Sprache, an die Stelle,
wo Körper und Zeichen noch ganz nah beieinander sind, wo
der Sinn gerade erst beginnt, sich aus dem Körper zu reißen.
Atem, Stimme ohne das gibt es keine Rede, keine Kommunikation.
Aber sie sind vielleicht mehr als nur die Bedingung von Sprache,
sie sind das, was in die Sprache eingehen wird als unbeachteter
körperlicher Anteil. Das, was überhört wird.
Im
Jahre 1937 schreibt Beckett einen Brief; darin heißt es
(fast) programmatisch:
"Und
immer mehr wie ein Schleier kommt mir meine Sprache vor, den man
zerreissen muss, um an die dahinterliegenden Dinge (oder das dahinterliegende
Nichts) zu kommen. (...) Gibt es irgendeinen Grund, warum jene
willkürliche Materialität der Wortfläche nicht
aufgelöst werden sollte (....)?"10
Zurück,
dahinter, an den Anfang. Auch mit dem Anfang muss begonnen werden.
Vorhang, Schleier auf. Dahinter: der Schrei, der Atem.
Mit
dem ersten Atem, mit dem ersten Schrei ist immer ein Schnitt mitzudenken.
Durchtrennung der Nabelschnur. Schnitt in den Körper, Schnitt
zwischen zwei Körper, Schnitt zwischen Körper und Sinn?
Das macht Schmerz, Verzweiflung, vielleicht auch Lust. Soll also
etwas entschieden werden: schneiden, scheiden, entscheiden?11 Das ist nicht klar, ganz und gar nicht klar. Der Text sagt nichts
dazu. Das Stück gibt nur zu hören und zu sehen.
Es
bleibt dabei: Atem, Stimme das sind Signale der Trennung
ohne Sprache zu sein. Ich nenne sie Zeichen, besser: Proto-Zeichen,
d.h., genetisch gesprochen, Zeichen vor den Zeichen. Beckett bringt
auf die Bühne die Geburt der (Vor-)Sprache aus dem Körper
ein Körper, der schon nicht mehr auf der Bühne
erscheint. Abgeschnitten. Der Ton, der Klang verlässt den
Körper, überlässt sich der Enteignung. Diese Theatralisierung,
diese Tele-Fonie, die den Klang vom Klangkörper trennt, bringt
uns auf die Spur der Bedeutung des Vorbedeutungshaften.
3.
Anfang: Der Mythos. "Breath" ist ein Text über einen
Text, der vom Anfang erzählt und selber Anfang ist: Genesis.
Ich
zitiere den Anfang:
"1.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
2. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster aus
der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.
3. Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht.
4. Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das
Licht von der Finsternis
5. und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward
aus Abend und Morgen der erste Tag."12
Wir
finden in Becketts Stück die Elemente, die auch diesen Anfangstext
ausmachen: Es gibt das Licht, das auf die Bühne kommt, in
dessen Schein das Durcheinander, das thohu wa-bhohu, die
Leere und Verlassenheit sichtbar werden. Becketts Wüste besteht
aus "miscellaneous rubbish (...) all scattered and lying".13 Beckett, der sonst sehr genau anweist, bleibt hier ungenau
jedoch in einem präzisen Sinn. Er verbietet explizit "verticals",
also Dinge, die hervorragen, die deutlich, die Gestalt oder Symbol
sind. Er weiß, dass auf der Bühne sich nichts zeigen
darf, das irgend einen Sinn, eine Funktion, eine Geschichte hätte.
Beckett will Ungeschiedenes, Vages sehen lassen.
Mit
diesem Bühnen-Environment wird der Bibeltext pervertiert.
Der mythische Sinn wird profaniert, denn das thohu wa-bhohu ist nicht die Ursuppe, aus dem die Welt erstehen wird, sondern
Abfall, Schund, das allerweltliche Ende.
Neben
Licht und Wüstenei tritt ein drittes Element hinzu, durch
dessen Einsatz der Autor eine weitere Drehung am biblischen Mythos
vornimmt: Schwebt in der Bibel der Geist Gottes auf dem Wasser,
ertönt in "Breath" der Atem und der Schrei gerade
dem (Frucht-)Wasser entkommen über dem Müll.
Auch wenn Becketts Stück gottleer ist, so bringt das Bibelfragment
als referenzieller Subtext dennoch eine Konnotation in jenes Wort,
das dem Stück den Titel gegeben hat. Denn zwischen Atem und
Geist besteht eine enge semantische Beziehung. In der hebräischen
Bibel heißt Geist ruach, was aber auch mit Hauch
oder Atem übersetzt werden kann. Ähnlich verhält
es sich im Lateinischen, wo anima Seele bedeutet und sich
vom Griechischen anemos ableitet, was der Wind ist. Mit
dem Atem und dem Wind kommt immer die Seele oder der Geist. So
sprechen wir nicht zufällig davon, dass uns Leben eingehaucht
wird oder wir das Leben aushauchen. Aus dem Mund kommt die Seele;
sie verbreitet sich, findet ein Ohr oder verhallt in der
Wüste. Dann stirbt sie.
Der
biblische Geist ist beredt. "Und Gott sprach" heißt es im
Buch Mose. Wort und Geist bilden eine Union oder sind gar synonym
zu verstehen. Bei Beckett hingegen erklingt kein Wort; sein Atem,
seine Seele, sein Geist ist stumm. Er bringt keine Unterscheidungen
in die Welt, wie er auch keine Welt erschafft. Dieser Geist ist
am Nullpunkt der Schöpfung, der Kommunikation, des
Ausdrucks. Man könnte sagen, der Beckettsche Atem korrespondiert
mit der Wüste auf der Bühne; er ist der Wind, der über
das Ungeordnete, Chaotische weht und selber Unordnung und Entropie
bezeugt. Denn der Atem ist nichts als ein Rauschen, also genau
das, was kommunikationstheoretisch gesprochen Feind
jeder Verständigung ist.
Anders
als in der Bibel, ersteht keine Welt, keine Ordnung. Es gibt zwischen
Tag und Nacht keine Geschichte, keine Entwicklung, keine Klärung,
keine dramatische Zuspitzung. Nichts bewegt sich. Die Seele/der
Atem richtet nichts aus. Die Schöpfung sistiert: Am Ende,
nach dem Ausatmen, steht der wiederholte identische Schrei. Alles
fällt zurück, ins Dunkel, von wo es kam. Keine Differenz,
kein Ereignis. Beckett geht an den Anfang doch ist sein
Ende kein Fortkommen, kein Wachsen, kein Entstehen. Paradox formuliert:
das ereignislose Ereignis.
Ich
zitiere aus Westward Ho eine kurze Passage, die diese Festklammerung,
dieses Nicht-in-die-Geschichte-kommen-können bespricht: "Say
a body. Where none. No mind. Where none. That at last. A place.
Where none. For the body. To be in. Move in. Out of. Back into.
No. No out. No back. Only in. Stay in. On in. Still."14
Steckenbleiben.
Die Reise nicht beginnen. Noch nicht Köper sein, nicht Geist,
ortlos.
Ist
das die Depression? Oder die pessimistische Absage an die Erlösung?
Oder die Einsicht in einen Kampf, der hinter der Illusion von
Freiheit und Fortschritt wütet?
Körper,
Geist, Ort das sind die Stichworte, die uns Beckett zur
Meditation aufgibt. Wie kommen sie in die Welt, wie entsteht das
eine aus dem anderen?
Vor-Orte Warten auf ... Gott? Warten auf den Tod? Wer wartet, dem fehlt
die Opposition, ein Punkt außerhalb. Beckett inszeniert
die Unsicherheit, die aus diesem Mangel entsteht. Es gibt keine
Selbsterschaffung. Ohne Opposition bleibt das, was Seele, Geist,
Subjekt werden soll, ein Rohstoff, eine rauschende Welle.15 Dieses Noch-Nicht erschafft nichts, wenn es nicht erschaffen wird.
Die Stimme, das Licht sie sind ohne Versicherung, ohne
Konstanz, ohne Ort.
"By
the voice a faint light is shed. Dark lightens while it sounds.
Deepens when it ebbs."16
Jemand
liegt unbeweglich im Dunklen. Die Stimme leistet Gesellschaft, Company. Die Stimme hören, dem Licht gehören.
Ich denke an die von Freud mitgeteilte Szene:
"Ein
Kind, das sich in der Dunkelheit ängstigte, hörte ich
ins Nebenzimmer rufen: 'Tante, sprich doch zu mir, ich fürchte
mich.' 'Aber was hast Du davon? Du siehst mich ja nicht'; darauf
das Kind: 'Wenn jemand spricht, wird es heller.'"17
Das
Kind findet Sicherheit in der Stimme, denn es kennt den Sprecher.
Anders bei Beckett. Die Stimme hat keinen sicheren Ort. Daraus
entspringt die prinzipielle Ungewissheit für den unsichtbaren
Namenlosen. Alles war vielleicht nur eine Halluzination. Becketts
Motiv des Lichts und der Stimme, die aus undurchdringlichem Dunkel
kommen, ist religiös jedoch ohne den Trost der Religion.
In
"Breath" ist die Stimme, der Atem ebenfalls ortlos. Unbenennbarer
Ursprung. Die Bühne bringt einen Ort vor Augen, an dem nicht
zu leben ist, weil es dort kein identifizierbares Leben, keine
Opposition gibt.
Sprachlos,
unbestimmt. Das Wimmern, das diffuse Licht, die kurze Zeit der
Betrachtung sie geben dem Zuschauer keine Welt.
Die
Unbestimmtheit des Wahrgenommenen, die Topografie des Nicht-Ortes.
Der verstreute Müll im Halbdunkel der Bühne von "Breath"
zeigt eine Gegebenheit, wie sie im Oeuvre Becketts immer wieder
vorkommt: der ziellose Weg, die einsame Kammer, der Erdhügel,
das Bett, der Schaukelstuhl, die Tonne, das Quadrat, die Dunkelheit,
etc. Diese Gegebenheiten sind allesamt ortlose Orte.
Was
ist ein ortloser Ort?
"Ein
Ort ist ein Punkt mit einer Umgebung." So definiert Michel Serres
den Begriff und schreibt weiter: "Die Landschaft versammelt Orte."18 Becketts Orte haben keine Umgebung, keine Landschaft. Deshalb
nenne ich sie ortlose Orte oder Vor-Orte. Sie sind ausweglos,
ohne Markierungen.
"Disappear
again and reappear again at another place again. Or at the same.
Nothing to show not the same."19
Der
ortlose Ort erlaubt trotz Bewegung keine Entgrenzung. Das ereignislose
Ereignis realisiert sich hier als Wiederholung, Ritual, als Erschöpfung.20 Die Orte stellen Verlassenheiten dar, die nicht verlassen werden
können. Manchmal gibt es Fenster, den Himmel, die Erinnerung;
sie lassen noch ahnen oder sehen, dass es ein Außerhalb,
Umgebung, den Anders-Ort gibt. In "Breath" jedoch glimmt nur kurz
das zeichenlose Licht auf, das wie eine Aura etwas anzukündigen
scheint, das nie kommen wird: der Tag, der Himmel, das Bild im
Fenster, die Erinnerung, der andere. Wie die Stimme und der Atem
ist dieses Licht Bedingung, Rohstoff, Beginn ohne Entwicklung:
Es gibt kein Bild.
So
ist die empfängliche Seele ohne Versicherung und am Ende,
am Anfang armselig.
Zeit
unterscheiden Die Spieldauer von "Breath" beträgt 35 Sekunden. Diese
reale Dauer ist überraschend. Ist sie zu deuten als Absage
an das Theater, ans Drama, an die dröhnenden Schritte schwerer
Körper auf hölzerner Bühne, an die Dialoge und
Monologe? Oder im Gegenteil ist die Kürze als
ein Anfangen zu verstehen? Mit dem Drama beginnen ohne
es zu Ende zu führen. Wie immer man es versteht: Die Realzeit
von 35 Sekunden provoziert symbolische Zeit. Folgen wir dem Gesagten,
folgen wir von Anfang zu Anfang, dann verdichtet Beckett die Zeit
von zwei Atemlängen mit der Zeit vom ersten bis zum letzten
Atem, die ein Leben einfasst, mit der Zeit der Erdgeschichte und
der Menschheit. Beckett geht aufs Ganze.21 Und gibt
ihm gleichzeitig keine Chance. Das Stück entscheidet sich
nicht, unterscheidet nicht zwischen dem Moment und der Ewigkeit,
zwischen Anfang und Ende. Physikalische Zeit, erlebte Zeit, mythische
Zeit Beckett entlässt uns nicht in die Entscheidung.
An
die Stelle rückt das ereignislose Ereignis, die spiegelbildhafte
Symmetrie des Geschehens: Vorhang, Schrei, Atem, Stille, Atem,
Schrei, Vorhang. Die Symmetrie schwebt über den Resten, den
Abfällen, sie berührt sie nicht. Einatmen, Inkorporation,
Licht, Inspiration Beseelung? Nein. Der Prozess
des Zusammentreffens von Leben und Welt zeigt keine wirkliche
Veränderung, keine Produktion. Er wird lediglich verkehrt:
Ausstoßung, Dunkelheit, Exspiration das Leben
aushauchen.
Das
Ereignis, wie ich es verstehe, hat keine Symmetrie; es
wirft uns hinaus, macht wach, verzweifelt, begierig, offen, kämpft
mit den Resten.
"(...)
das Kommende indessen, das Vorausweisende, herrscht im Rest: Er
ist mein Zufall, meine Zeit, meine Geschichte, mein Leben. Was
würde ich ohne ihn machen? Ich lebte nicht länger in
meinem Kopf, wäre vielleicht ein Insekt, geometrisch, angepasst.
Wir hoffen auf die Abweichung das erzeugt die Zeit. Sie
bringt uns aus dem Gleichgewicht, destabilisiert uns. Daher unser
Treiben, unsere Geschichte, Odysseus Irrfahrten, in widrigen
Winden, Kolumbus gen Amerika, der Drang nach Westen, das Abenteuer
Wissenschaft. Nie bleiben wir stehen, stöbern ständig
mit der Nase im Gestrüpp, mit den Füßen im unberührten
Dreck."22
Auf
nach Westen, Westward Ho? Bei Beckett ist im Gegensatz
zu Serres der Aufbruch immer eine Parodie oder vom Scheitern
gekennzeichnet. Zwar gibt es bei ihm auch Zeit, Dreck oder Rest.
Doch sind die zirkuläre, ereignislose, geometrische Zeit
Zeit ohne Abweichung und der unberührbare Dreck
zu wenig, um Körper, Geist oder Seele, Ort und geschichtliche
Zeit hervorzubringen. Unbeirrt und kontaktlos geben sie nichts
her.
Diesem
Stück, so meine Abschlussthese, ist die Gewalt der Ambivalenz
eingeschrieben: Der Atem, der das Licht und die Zeit strukturiert,
ist Negation und gleichzeitig Voraussetzung von und für
was? Leben, Kommunikation, Ausdruck, Geschichte, Tod. Beckett
zeigt die Geburt, die nicht zu Ende gebracht wird. Der Schnitt
wird gesetzt und rückgängig gemacht.
Darin
liegt die Gewalt dass es keine Entscheidung gibt.
1 Samuel Beckett: "Company", in: ders., Nohow On, New York 1996,
S. 3.
2 Samuel Beckett: "Breath", in: ders., The Complete Dramatic Works,
London, Boston 1990, S. 371.
3 Tatsächlich kam es nach der Erstaufführung zum Streit
zwischen Beckett und dem Produzenten, der es zugelassen hatte,
daß nackte Leiber mit dem Müll auf der Bühne lagen.
In der Folge ließ Beckett jede weitere Aufführung in
Verbindung mit der Revue untersagen. Siehe dazu James Knowlson:
Damned to Fame. The Life of Samuel Beckett, London 1996, S. 565-566.
4 Zit. n. Knowlson: Damned, S. 565-566.
5 Beckett: "Breath", S. 371.
6 "vagitus uterinus", damit ist das Schreien der noch nicht geborenen
Kinder im Uterus gemeint, wenn nämlich Luft in denselben
gelangt, wodurch das vorzeitige Atmen ermöglicht wird. Vgl.
unter diesem Eintrag Medizinische Terminologie, bearbeitet
von Herbert Volkmann, Berlin/München 1947. Generell: In den
Texten Becketts finden sich immer wieder medizinische Terme, die
Krankheiten bezeichnen.
7 In einem Brief spricht Beckett von "a tiny vagitus-rattle". rattle bedeutet Röcheln, Atemrasseln. Vgl. Knowlson,
Damned, S. 565.
8 Hier zeigt sich sinnfällig, dass sehen/hören und lesen einen Unterschied machen.
9 Dieser Hinweis stammt von Hans Naumann (Hamburg), bei dem ich
mich nicht nur für diese, sondern auch für weitere Anregungen
bedanke.
10 Samuel Beckett: Disjecta, London 1983, S. 52.
11 Vgl. Michel Serres: Der Hermaphrodit, Frankfurt/M. 1989, S.
49.
12 1. Buch Mose, 1-5.
13 Beckett: "Breath", S. 371.
14 Samuel Beckett: Westword Ho, Frankfurt/M. 1989, 7. "Ein Körper
sagen. Wo keiner. Kein Geist. Wo keiner. Wenigstens das. Ein Ort.
Wo keiner. Für den Körper. Wo er sein kann. Wo hinein.
Von wo hinaus. Wohin zurück. Nein. Kein Hinaus. Kein Zurück.
Nur hinein. Darin bleiben. Weiter drin. Noch immer."
15 Einatmen/ausatmen, das ist auch als Welle zu hören, die
heran- und abläuft. Und es ist darauf hinzuweisen, das im
Französischen vague Welle, Woge bedeutet.
16 Beckett: "Company", S. 12.
17
Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.
Studienausgabe, Bd. I, Frankfurt/M. 1969, S. 393.
18 Michel Serres: Die fünf Sinne, Frankfurt/M. 1993, S. 323.
19 Samuel Beckett: Stirrings Still, Frankfurt/M. 1991,
S. 14. "Wieder verschwinden und wieder an einem anderen Ort wieder
erscheinen. Oder demselben. Kein Zeichen daß nicht derselbe."
20 Vgl. Gilles Deleuze: "Erschöpft", in: Samuel Beckett:
Quadrat. Stücke für das Fernsehen, Frankfurt/M. 1996,
S. 51-101.
21 An dieser Stelle ist auf eine Performance des Minimalkünstlers
Robert Morris aus dem Jahre 1961 hinzuweisen, die eine strukturelle
Ähnlichkeit mit Becketts Stück aufzuweisen scheint:
Morris läßt auf einer Bühne einen Vorhang aufgehen.
Eine graue Sperrholzsäule wird freigegeben. Nichts weiter.
Dreieinhalb Minuten vergehen. Plötzlich fällt die Säule.
Wieder vergehen dreieinhalb Minuten. Der Vorhang schließt
sich.
22
Der Unterschied zu Beckett liegt im Detail: Morris zeigt
ein Ereignis ohne Details, ohne Symbolizität. Ich folge hier
Georges Didi-Huberman, der im Minimalismus den Versuch erkennt,
ein Objekt erstehen zu lassen, das nur für sich steht und
jegliche Imagination, Metaphorizität und Metaphysik auszublenden
sucht. Verknappend könnte man sagen: Beckett ruft das Sakrale
auf, Morris die Physik. Vgl. Georges Didi-Huberman: Was wir sehen
blickt uns an, München 1999.