Ummalungen. Zu einigen Bildern Bettina van Haarens

Weiß
Ich beginne mit der Farbe: Weiß.
Farbe des Nichts, der Abwesenheit.
Farbe der Erfülltheit, des ausgewogenen spektralen Chaos.
Farbe der Kommunikationslosigkeit: weißes Rauschen.
Farbe der Unschuld: das weiße Hochzeitskleid, die weiße Weste, die junge Haut. Die Zeit der Unschuld ist die Zeit vor der Zeit, die Zeit des Noch-Nicht, der Erwartung.
Sagen wir es anders: Weiß ist der Zustand des Möglichen, antitotalitär.(1) Weiß ist der Beginn.
Ein frisches Schneefeld zieht uns magisch an; wir möchten es betreten, um eine Spur darin zu ziehen. Ein Blatt Papier soll beschrieben werden. Ein weißes Laken gibt unter der Schwere eines Körpers nach. Eine weiße Hauswand wird mit einem Graffito besprüht. Ein Maler bringt Rot, Blau, Gelb auf die weiß grundierte Leinwand.
Nach der Unschuld erst beginnt die Geschichte. Ein beschriebenes Blatt, ein bemaltes Bild, eine gezeichnete Spur, ein beflecktes Laken – es ist etwas geschehen. Von nun an wird man anders sehen, denken, fühlen.

Leuchten
Müssen wir uns aber mit dieser Vorstellung der Verunreinigung begnügen oder der des Einschnitts, der den Sinn hervorbringt? Folgen wir der Etymologie, dann assoziiert sich weiß auch mit der Idee des Leuchtenden, Glänzenden und Hellen.(2) Weiß vermag mehr zu sein als die Grundlage, das Unbearbeitete, das Gesichts- und Geschichtslose. Die Nullfarbe ist mehr als Dienerin, sie erschafft den immateriellen Raum, in dem die Dinge, die Zeichen sich nicht nur zeigen, sie verleiht ihnen Glanz für ihre Eigenheit oder gar Eigensinnigkeit.Ich betrete den white cube der Bettina van Haaren und stelle eine Behauptung auf:
Das Weiß, in das die Malerin ihre Motive stellt, fungiert als Licht, das von den Dingen die Trivialität abstreift und sie in eine Überrealität hebt. Betrachten wir zum Beispiel bewölkt (bewölkt ››). Das Körperhafte und der Körper werden in die Schwebe, in die Schwerelosigkeit gebracht. Das Weiß ist Hintergrund und Umgebung, Leere und Hülle. Ein Energiefeld, in dem die Kissen/Wolken selbst energiegeladen erscheinen. Geheimnisvolle Ufos – unidentified flying objects. Kissen oder Wolke? Oder ein Drittes?
Es ist die kalte Leuchtkraft, die sie aufhebt und ihnen ihre Identität raubt. Die Physik der Leuchtkraft ist gleichzeitig eine Meta-Physik: Nicht das Aussehen, die Erscheinung der Dinge berührt uns, es ist die Aura, die wir wahrnehmen. Sehen wir Metaphern oder Metamorphosen – das ist mit einem Mal die Frage (auf den Punkt der Wandlung komme ich noch zurück). Das Weiß, das den Raum verdrängt und mit ihm die metonymische Verknüpfung, ist das Medium der Transformation. Die freigestellten Sachen folgen nun einer anderen Gesetzmäßigkeit, der Gesetzmäßigkeit des Bildes, das immer mehr ist als die Sache oder das Wort für die Sache. Wir sind angekommen im Imagenären des Bildes. Der Neologismus imagenär (statt imaginär) bezeichnet die Überlagerung des äußeren Bildes (Image) mit dem inneren Bild (Imago). Gertrud Steins berühmte Formulierung wäre zu revidieren: Eine Rose ist (k)eine Rose ist (k)eine Rose. Ins Theoretische übersetzt: Im Imagenären wird die Unterscheidung zwischen Sachbedeutung und metaphorischem Sinn unmöglich.
Mit Vorsicht riskiere ich die These, dass wir einer Malerei des Traums ansichtig werden. Gemeint ist nicht eine Traummalerei, die die Nachtgeschichten einfach ins Ikonografische übersetzt; auch folgt sie nicht einer romantischen Konzeption, die im Traum das Sinndunkle und Furchtsame sucht, oder der surrealistischen Manier mit ihren intellektualistischen Paradoxien. Mit Traum meine ich vielmehr die Logik primärprozesshafter Strukturierungen und den Mechanismen der Vorstellungsassoziation.

Vor-Stellung
Auf den ersten Blick vereinen die Bilder Unvereinbares. Als würde Zufälliges zusammengebracht werden. Alltägliche Dinge, Künstliches und Naturstücke, Tiere, Spielzeuge und als wiederkehrendes Erkennungszeichen ein weiblicher Körper. Rätselhafte Kombinatoriken, die wir nicht zu entschlüsseln vermögen. Ich könnte die These wagen, dass diese gegenständliche Malerei aus dem Geist der Gegenstandslosigkeit geboren wird. Der Sinn für die Flächenbehandlung, das Erfinden von Formen, das Abwägen des Farbzusammenspiels – all das ergibt einen Bildraum, durch den der Blick choreografiert wird, ein Blick, der sich von der dichten Sinnlichkeit betören lässt und nicht danach fragt, ob eine Geschichte, eine Idee oder eine Wirklichkeit übermittelt wird.
Ich bleibe aber bei den Sachen – oder sollte ich lieber sagen Vorstellungen?
Der Traum lässt Welt und Bild auseinander springen. Wird vielleicht doch etwas erzählt, nur eben mit Leerstellen und mit Mitteln des Sinnbildes? Denn noch vor jeder Analyse oder sagbaren Spekulation wirken die Motive wie Andeutungen, die sowohl den Sinn einfordern wie auch einen Widerstand dagegen anzeigen. Es scheint nicht auflösbar, ob in den Dingen und zwischen ihnen Verdichtungen oder Auflösungen stattfinden. Oder passiert beides in einem?
Ich bleiben noch einen Augenblick bei dem Eindruck: Die Dinge, so belanglos sie erscheinen (wohl auch aufgrund ihrer Traditionslosigkeit im Kosmos der Malereigeschichte), atmen den Hauch des Vergangenen und des Erinnerten. Uns passiert es ja manchmal, dass wir uns an scheinbar ganz unbedeutende Dinge erinnern, wohingegen manch Wichtiges vergessen wird. Solche Deckerinnerungen fungieren als Stellvertreter eines Moments, in dem eine Lust, ein Trauma, ein Fragen, ein Wunsch wirksam war. Diese Erinnerungsdetails beunruhigen durch ihrer Marginalität, von der wir spüren, dass sie nur eine scheinbare ist.
Bettina van Haaren transportiert also eine Aufstörung durch das vorgeblich Belanglose ins Bild. Ich sagte, dass das Weiß den Raum auslöscht, womit auch die Orientierung durch die Zentralperspektive aufgelöst wird. An die Stelle der realistischen Perspektive tritt eine dezidiert affektive Perspektive: Ist in der optisch konstruierten Perspektive das Nahe und Ferne nach Größe und Deutlichkeit organisiert, rücken in der affektiven Perspektive die Dinge in ihrer stofflichen Unmittelbarkeit heran oder gehen in Distanz, vermehren sich, bilden sonderbare Formationen oder rätselhafte Landschaften.
Die Kombinatoriken sind unbeweglich, ohne dabei ruhig zu sein; jedes Bild ist ein Spannungsmoment. Darin ist alles auf Oppositionen ausgerichtet, in der Harmonie schwierig ist: Tier/Mensch, Ding/Mensch, lebendig/tot, weich/hart, Ganzheit/Fragment, Volumen/Flachheit.
Doch lassen sich auch – zunächst unscheinbar – in der Opposition Verbindungen ausmachen. Die Malerin konstruiert Verwandtschaften zwischen den Bildgegenständen, indem sie formale Korrespondenzen erzeugt: ein Element oder Detail eines Motivs wird in einem oppositionären Motiv wiederholt. Es kommt gewissermaßen zu Übersprüngen zwischen den Bildelementen, wodurch die Opposition aufgeweicht wird. So hallt die Form der weiblichen Brust in der Lampenform wieder (Au
slegung ››), reproduzieren sich die geöffneten Beine in den Hälsen von Schwan und gespiegeltem Schwan (Kreuzstücke ››) oder in den Beinen eines Tisches und eines Schaukeltieres (Lungenblasen ››), auch wird die Hautfarbe auf den Baum oder kleine Würstchen übertragen (Stammschutz ››). Diese bildhaften Verschiebungen werden ergänzt durch Verschiebungen sprachlicher Signifikanten, die ganz in der Logik des Traums als visuelle Zeichen erscheinen. In Orangenhaut (Orangenhaut ››) wird die alternde Haut (Orangenhaut) des Körpers in die Prallheit dargestellter Orangenstückchen übersetzt. Gleichzeitig ist die Orange Metapher für die Leibesfrucht, denn sie ist exakt dort platziert, wo der Fötus heranwächst. Dass auch die Brustwarze die Farbe der Orange bekommen hat, erzeugt eine Ähnlichkeit von Milch und Saft. Plötzlich sind die Dinge miteinander verknüpft, vermischt, miteinander verwandt. Man kann daher weder von einer Ästhetik des Schocks sprechen, in der das Unvereinbare aufeinander prallt, noch von einer Logik der Erzählung mit ihrem Nacheinander der Elemente. Was zu entdecken ist, das ist die Mechanik von Verdichtung und Verschiebung.

Ein Hinweis auf die Analyse jenes bedeutsamen Traums, den Freud mit seinem Patienten Sergej K. Pankejew durchgeführt hat, verdeutlicht diese Prozesse. Dieser unter dem Pseudonym Wolfsmann bekannte Analysand träumte als Kind von einem kleinen Rudel weißer Wölfe, das sich in einem Baum niedergelassen hatte. Das Element der Farbe Weiß führt ihn durch eine assoziative Reihe, die äußerst heterogen ist, insgesamt aber auf eine Urszene verweist: Bettwäsche, weiße Schafe, die weißen Pfoten der kleinen Ziegen aus dem Märchen „Der Wolf und die Sieben Geißlein“, ein weißes Totenhemd. Eine andere Reihe baut nicht auf einem Farb-, sondern auf einem Formäquivalent auf: Nachdem Pankejew seine Angst vor Schmetterlingen bekundet hat, verkettet er das Öffnen von Schmetterlingsflügeln mit den geöffneten Beinen einer Frau, mit dem Zeichen der römischen V und mit dem Buchstaben W in dem Wort Wespe.(3) In jedem assoziierten Material der gleiche Eintrag, der ein Aufruf zur Sinnsuche ist.
Ähnlich sehe ich formierte Energie- und Sinnzentren in den Bildern van Haarens verstreut. Ein Element geht von einem Ding zu einem anderen über oder scheint es hervorzubringen: Halbgeöffnete Fäuste wiederholen sich als Formanmutung in Baisers und in schwebenden Kissen (bewölkt ››). Puppenköpfe finden ihre Entsprechung in Pilzen (Stammschutz ››). Brüste zerknittern wie Kissen, Schwanenhälse formen sich wie Beine (
Ausschüttung ››). Wir können uns fragen, ob die Dinge überhaupt das sind, was sie vorgeben zu sein, oder ob nicht das in sie eingezeichnete Formelement das Eigentliche ist.
Auf diese Weise entsteht eine subtile dramatische Wirkung. Den Kontrast aus strukturaler Kombinatorik und daraus entwickelter Aufladung alltäglicher Dinge möchte ich als Poetik der Vermischung und Enthärtung bezeichnen. Diese Strategie der Aufladung durch Verbindung erzeugt gleichzeitig eine undurch-dringliche Enigmatik. Denn es bleibt verborgen, welcher hintergründige Antrieb für die Kombinatorik verantwortlich ist. Indem aber die Bewegung des Affekts im Bild festgefroren und erkennbar wird, stellt sich der Erlebniseindruck des Bedeutungshaften ein. Dieses Bedeutungshafte wird allerdings nicht in einen Sinn konvertiert; die Bilder sind nicht entschlüsselbar. Der Bildraum wird bestellt, um das Ausgeschlossene, das Unbewusste, das Verlorene anzudeuten. Handelte es sich nicht um Bilder, ließe sich von Umschreibungen sprechen. Der Neologismus Ummalungen sagt es medienadäquat: Malen, um zu zeigen, dass es Nicht-Zeigbares gibt.

Kindheiten
Das Geheimnis ist also den Bildern nicht zu entreißen, das Verlorene nicht wiederzugewinnen. Bleibt uns demnach nichts als die Entscheidung, vor diesen Träumen in rätselnder Neugier zu verweilen oder uns gelangweilt von ihnen abzuwenden? Man würde das Sichtbare verkennen, wenn es lediglich als Fleck für etwas Abwesendes gelten sollte.
Lieber suche ich nach Spuren, die eine Sinnrichtung angeben.
Nimmt man das einzelne Bild nicht als singuläres Für-sich-Sein, sondern geht mit dem Bewusstseinsstrom, der sich durch die Bilder bewegt, dann lassen sich drei Motivkomplexe identifizieren. Diese verweisen meines Erachtens auf verschiedene Kindheitsphasen. In dieser Perspektive wären die Bilder zu betrachten als eine recherche du temps perdu. Erklärlich wären so auch der Ernst und die Melancholie, die von den Gemälden abzustrahlen scheinen.
Nehmen wir den ersten Komplex in den Blick: die Oralität. Immer wieder tauchen – meist beiläufig – Motive auf, die auf das Essen, den Mund und die Lust am Schmecken zu deuten scheinen: (weiße!) Schokolade, Baiser, Würstchen, Löffel, Frucht, die weibliche Brust. In löffeln (
löffeln ››) verschwimmt das Essen mit dem Gefüttertwerden, das Essgerät mit dem Mund, die Brust mit dem Löffel – und es scheint, als lauerten die Löffel, die den Unterleib bedecken, auf die Ankunft des Kindes. Signifikant ist der Mund, der trotz der Wucht alimentärer Andeutungen leer bleibt und wie zum Schrei geöffnet ist. Stellt das Bild eine orale Bedürftigkeit dar oder inszeniert es die Leerstelle als Metapher für das verlorene Genießen, das sich an diesem Ort einmal eingeschrieben hat? Einverleiben und küssen (frz. baiser) – die orale Lust hat sich in die Bilder eingemalt und ist doch auch schwieriger geworden: Die Essenssachen liegen herum, bilden fremdartige Organismen, wirken fremd. Und die Lippen der erwachsenen Frau? Diese sind stets verschlossen, stumm, spröde.

Der zweite Komplex: die Materialität. Was immer die dargestellten Dinge an individueller Mythologie beinhalten mögen, sie sind für den Betrachter vor allem Repräsentanten von sinnlich-taktilen Qualitäten. Bettina van Haaren bringt eine kleine Enzyklopädie der Oberflächen zur Ansicht: Holz, diverse Kunststoffe, Federn, Häute, Gras, unterschiedliche Textilien, Metall, Fell. Diese Qualitäten werden in akribischer Ölmalerei ausgeführt.

Die Spezifik des Realismus ist entscheidend für seine Funktion als Rückverweis auf eine frühe Erlebniswelt des Körperlichen. Was wir sehen, ist trotz der Akribie keine Malerei der Augentäuscherei. Hier malt kein Zeuxis seine Trauben so naturgetreu, dass die Vögel daran picken, und auch kein Parrhasius seinen leinenen Vorhang, den aufzuziehen man begehrt.(4) Der Realismus van Haarens versteckt nicht den malerischen Gestus. Man sieht die Bearbeitungszeichen, man spürt die Investition an Zeit und libidinöser Energie, die für die Hervorbringung dieser Bildelemente notwendig sind. Die Bedeutsamkeit entspringt dem Doppel aus Motivgenauigkeit und ausgestellter Stofflichkeit der Farbe. Inszeniert wird das Drama einer Transformation vom Roh-Stofflichen zum Fein-Symbolischen. In diesem Vorgang bleibt noch etwas erhalten aus der Zeit, als Sprache und die Fähigkeit zu erinnern noch nicht das ursprüngliche Reich der Empfindungen störte. Berühren, berührt werden. Die realistische Malerei, die die Materialität der Farbe ausstellt, fasse ich als Kompromiss auf: Verloren ist die Welt ungefilterter Sinnlichkeit, eine Dingwelt, die noch nicht in die Abstraktion der Begriffe übergegangen ist. Aufgehoben bleibt sie aber noch in der Sichtbarkeit der vorsignifikativen Farbspur, die eine Synästhesie aus Feuchtigkeit, Düften und Weltleuchten aufruft. Das Bild in seiner Zeichenhaftigkeit enttäuscht per se die Sinnlichkeit und sucht sie dennoch zu retten: Es zeigt eine Sache als Symbol oder als Name; gleichzeitig verzaubert das Bild die Dinge in Farbstofflichkeit. Ertasten, erspüren, bearbei-ten: Das Sekundäre vermischt sich mit dem Primären, das Nachträgliche mit dem Vorgängigen, das Erwachsene mit dem Infantilen. Als motivischer Verweis auf diese Vorzeit ist der weibliche, stets nackte Leib zu sehen. Die Haut ist das primäre Verbindungsstück zwischen Mutter und Kind. Mag das Kind auch als Bildelement nie in Erscheinung treten, als Verlorenes ist es anwesend in all den Anspielungen auf die Kinderwelt. Doch auch all die Dinge aus der Erwachsenenwelt – Tisch, Teppich, Handtuch, Huhn etc. –, enthalten das Paradies unmittelbarer Körperlichkeit, sie sind in ihrer Häutigkeit Ableitungen oder Sublimierungen des Urobjekts.

Der dritte Komplex: die Spielsachen. Kaum ein Gemälde, in dem nicht ein Spielzeug oder ein Spielplatzgerät seine Stelle hat. In der Regel bunt, schrill und aufs Engste mit dem Leib verbunden: Püppchen, die aus der Hand wachsen; Mickey Mäuse, die die Körpermorphologie widerspiegeln; Spielzeugstraßen, die den Körper umschlingen. Doch auch hier wie in den vorhergehenden Komplexen herrscht das Prinzip der Verlassenheit, als bildeten die Spielsachen nicht mehr als den phantasmatischen Rest von etwas Lebendigem, das einmal war.
Spielen, genießen, nicht wissen – das könnte der geheime Untergrund der Kunst Bettina van Haarens sein. Doch alles geht über in die Abgeklärtheit der Seelenwundheit. Das Wachsen, das Heraustreten aus der Kindheit, das Altern sind die antreibenden Themen. Die anrührend-verhässlichte Faltigkeit der Haut in den eher zeichnerisch angelegten Eitempera-Passagen beschönigt nicht die Vergänglichkeit. Farbleer und fleischlos kommt ein Leib zur Ansicht, der ohne Leidenschaft, ohne Erotik ist; Nacktheit ist kein Zeichen für Verführung. Daher ist auch der Schwan, der in einigen Gemälden wiederkehrt, nicht vorschnell als interikonischer Verweis auf Leda zu verstehen. Welcher verliebte Zeus soll sich mit der Gestalt des Schwans maskiert haben, um sich in die erotische Umarmung mit der Frau zu schleichen? Leda als Inbild überhöhter Erotik – das passt nicht in die Dingwelt van Haarens. Nähme man Leda weniger als Geliebte denn als Mutterfigur wahr, eine Rolle, die sie auch in der Mythologie einnimmt, so näherten wir uns wieder den Themen von Werden und Vergehen. Mit Blick auf das Motiv des Schwans ist jedoch nicht der Mythos, sondern ein Märchen in Erinnerung zu rufen, Hans Christian Andersens Märchen vom hässlichen Entlein. Dieses Märchen fügt sich in den Zusammenhang von Kindheit, Metamorphose und Identitätswechsel. Doch ist der Unterschied zwischen Bild- und Märchenwelt signifikant: Wo in der Geschichte der Wandel zum Erwachsensein glorifiziert wird und das Entlein zum „schönsten Schwan von allen“ sich auswächst, dort wird im Bild die Trauer um das Ende anschaulich (
Ausschüttung ››): Der Schwan liegt tot und schlaff in den Armen der Frau, die mit ernstem und abgeklärtem Blick den Betrachter zu fixieren scheint.
Spräche sie, sie würde sagen: Ich weiß.


Anmerkungen
1 Vgl. Michel Serres, Rome. The Book of Foundations, Stanford, California 1991, 50.
2 Siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm.
3 Sigmund Freud, „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“, in: ders., Studienausgabe, Bd. VIII, Frankfurt am Main 1969, 162, 203–207.
4 Siehe Plinius, Naturalis historia, XXXV, § 64.


© Gunnar Schmidt 2006