Valentina Zacheni

Handbuch der speziellen pathologischen Anatomie und Histologie. Der vierte Teil des dreizehnten Bandes (Nervensystem) erscheint 1956. Das Kapitel über Mikroencephalie, über die Kümmerbildung des Gehirns enthält eine Abbildung. Die Bildunterschrift erklärt: "Normal entwickeltes Kleinhirn und Rückenmark bei weitgehender Hypoplasie des Großhirns. Im Windungsaufbau nichts auffälliges. 65 cm groß, 9 Jahre alt.” Hypoplasie bedeutet Unterentwicklung. Das ist die knappe Sprache der Wissenschaft, die einen Restbestand Mensch beschreibt: Dingsprechen, Dingzeigen. Die strenge Funktionalität - zeigen, erklären, belehren - verleugnet die Geschichte dieses Gehirns, seiner Entstehung als Bild. Text und Bild verschweigen eine grausame Praxis, eine Hinrichtung, eine Zerlegung, verschweigen wie das Gehirn, das Rückenmark feinsäuberlich aus dem Schädel herausgeschält und präpariert, dem Leib, dem Leben geraubt wurde.
Der Journalist Ernst Klee hat ein Stück dieser Geschichte ans Licht gebracht.*

Es ist das Jahr 1941. Valentina Zacheni ist ein mageres neunjähriges Mädchen. Valentina ist blind und geistig behindert. Man hat sie in eine psychiatrische Anstalt gebracht. Hier werden Kinder nicht versorgt; Nazi-Ärzte benutzen sie für medizinische Experimente. Auch Valentina erleidet das Schicksal des Versuchsmenschen. Ein Film aus der Experimentierkammer der Anstalt zeigt einen Weißbekittelten, der das Mädchen faßt, ihm den Kopf hin- und herrenkt, den leichten, kümmerlichen Leib, zwischen den Händen haltend, zusammen- und auseinanderfaltet, die Wirbelsäule dreht. Dann hält er das nackte Mädchen an den Beinen, schleudert es mehrmals in die Luft, läßt es fallen, fängt es, läßt es kopfüber in der Luft hängen. Valentina weiß nicht, was ihr geschieht. Nahaufnahme auf das baumelnde Mädchen: Valentina ist angstverkrampft, die Arme preßt sie schutzsuchend an den Leib oder an den Kopf - hilflose Gesten der Abwehr gegen den erbarmungslosen Zugriff. Der Mund ist aufgerissen zum Schrei, zum Jammer. Der Arzt vermeidet es, dem Mädchen ins Antlitz zu schauen. Ich frage mich, ob er je den Namen des Kindes ausgesprochen hat. Ohne Gesicht, ohne Namen ist dieses Geschöpf nichts als ein anatomisches und physiologisches Ding.

Was der Film nicht zeigt: Irgendwann verabreicht man Valentina eine Überdosis eines Beruhigungsmittels, das eine tödliche Lungenentzündung hervorruft. Das Kind muß sterben, damit man es obduzieren kann. Man enthäutet den Körper und fixiert ihn. Das Hirn samt Rückenmark wird aus dem Schädel operiert. Man fertigt Fotografien davon an.

15 Jahre vergehen; ein Foto erscheint nun als unverdächtiges Dokument im medizinischen Lehrbuch. Die Folter, die Tötung, die blicklose Berührung, das Skalpell - obszöne Gewalt: Was ein Mensch war, verschwindet in knappen, gelehrten Sätzen, in einem Bild grauer Masse. Die Werkzeuge, Hände und Augen zerreißen und fixieren - aber sie zeugen keine Erinnerung. Die Wissenschaft anatomisiert nicht nur den Körper, sie schneidet den Reichtum eines Seins, einer Geschichte ab. Dazu gehört auch die Qual der letzten Lebenszeit. Das Bild zeigt sie nicht und die Angst, die sich unsichtbar ins Hirn Valentinas eingebrannt haben mag.
Und es zeigt nicht den Verlust der Scham der Wissensmächtigen. Ihre Praxis geht direkt vom Griff zum Begriff, vom Blick zum Bild. Was dem Wissen sich nicht fügt, darauf fällt der Schatten. Das Objekt in seiner kalten wissenschaftlichen Zurichtung ist stumm für den Tod, den es darstellt. Das Geraubte - Leben, d.h. die Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen - entbehrt es nicht. Dem Bild ist durch seine Unauffälligkeit, Abstraktheit und reduktive Sachlichkeit jene Immunität mitgegeben, die die experimentierenden Ärzte dem Individuellen, dem Namen, dem Wachsenden gegenüber aufwiesen.

So bleibt am Ende von Valentina Zacheni nichts als ein Karteikarton mit wenigen Daten und einige fotografische Aufnahmen - eine Kümmerbildung.


* Sichten und Vernichten. Psychiatrie im 3. Reich. (Fernsehfilm 1995)

© Gunnar Schmidt