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Nach dem Tod
Nach dem Tod beginnt die Erzählung. Erinnerungsarbeit. "Weißt
du noch ..."
Aber die Erinnerung gibt sich nicht in jedem Fall und selbstverständlich.
Das Vergessen eilt mit der Zeit. Auch die Erinnerung kann zu Tode
kommen. Sie liegt im Archiv unseres Gedächtnisses begraben,
leblos, wie eine Leiche.
Der Tod - unausweichlich - kann ängstigen. Der Tod der Erinnerung
bringt oft Erleichterung. Warum den Schrecken von etwas Erlebtem
weitere Male erleben? Möchten wir aber Vergangenes bewahren,
lebendig halten, dann gibt es Möglich-keiten, dem Vergessen
entgegen zu arbeiten. Wir sammeln Erinnerungsstücke, errichten
große und kleine Mahnmale, machen Bilder. Wir erschaffen
Anlässe, die sich mit Geschichten, Szenen, Gesichtern verknüpfen.
Auch
der Grabstein ist Erinnerungsanlaß. Doch ist ihm die Macht
auslöschender Abstraktion eigen. Der Reichtum eines Lebens
erstirbt symbolisch ein zweites Mal zwischen zwei Daten, die nichts
erzählen: geboren, gestorben.

In einigen Friedhofskulturen werden wohl daher Fotografien mit
Porträts der Toten in Grabstein oder Kreuz eingelassen.
Das ist ein Konkretes, das der nichtenden Abstraktion entgegenwirkt.
Das erstarrte Antlitz aus einem Moment des Lebens erscheint wie
ein Rückruf des Vergangenen ins Jetzt der Erinnerung. Als
wolle der bildgewordene Tote sagen: "Schau mich an, du sollst
mich nicht vergessen." Ein fotografisches Gespenst erscheint
am Ort der Toten. Dabei sind es die Überlebenden, die das
Bild anbringen, die es benötigen, um der Gewalt, die das
Vergessen vielleicht ist, zu entgehen. Das Bild ist wie ein Zugang
zum Gedächtnis, in dem man die lebendige Erinnerung zu finden
hofft.
Auf
einem kleinen schweizer Friedhof finde ich auf einem Grabkreuz
mit Porträt aus dem Jahre 1925 einen gedichteten Kommentar
zu diesem Sachverhalt: "Wie lieb der Vater uns gewesen, kann man
auf diesem Bild nicht lesen. Eingeschrieben wie in Erz, steht
es in der Kinder Herz."
Das Foto bewahrt das Aussehen, es vermittelt einen Eindruck. Dieser
Eindruck entspricht aber nur dem Bruchteil einer Sekunde. Darum
wird auch die Fotografie der Erinnerung letztlich nicht gerecht.
Vielleicht ist dem fotografischen Bild etwas zutiefst Unethisches
eigen: Es archiviert, doch täuscht es die Gedächtnisleistung
lediglich vor. Die Bilder zeigen, sie sprechen aber nicht aus;
sie haben keine Zeit. Das Bild mag Protest gegen das Abstrakte
sein, es kann aber nie die Bilder im Betrachter ersetzen.
Die Fotografie für sich ist tot. Sie braucht die belebende
Beigabe. Der festgehaltene Blick, der aus dem Bild auf den Beschauer
trifft, muß zurückführen in die Kammern des Gedächtnisses,
um dort die Szenen der Vergangenheit wachzurufen.
Christian
Boltanski
Der
französische Künstler Christian Boltanski hat für
diese Situation eine skulpturale Entsprechung gefunden: Er schichtet
Metallkästen aufeinander und heftet an jeden dieser Behälter
ein fotografisches Porträt. Der Betrachter weiß nicht,
was sich in den Kästen befindet - Asche, Dokumente, Briefe,
weitere Bilder, Tagebücher, Gegenstände? Sie haben die
Stummheit lebloser Archive, die erst beim Öffnen ihren Reichtum
bekunden und die Geschichte des toten Bildes in Bewegung bringen.
Lebendig sein vor dem Grab, heißt: in die Vermischung eintreten,
Öffnungen finden. Anschauen, Angeschaut-Werden, kreuzende
Blicke, lebendig und gespenstisch, verdichtete Zeiten - die Zeit
von Geburt und Tod, die Zeit der Bildnahme, die Zeit des Erinnerns,
die Zeit des Erinnerten. Vergangenheit und Gegenwart, Sehen und
Erinnern vermählen sich.
Und die Zukunft? Findet sie in dieser Meditation ihren Platz?
Dazu ist eine Episode zu erzählen.
Als
der Psychiater Félix Guattari beerdigt wurde, hatte man
ein Foto auf dem Grabstein angebracht, daß ihn dabei zeigte,
wie er ein Foto macht. Das fotografische Gespenst fotografiert
die umstehenden Trauernden. Wird hier eine ironische Umkehrung
inszeniert, die besagen will, daß der Tote Bilder von den
Lebenden mitnimmt? Eher wird der Betrachter zu der Erfahrung gebracht,
daß er Bild werden kann, das einmal an einem Grabstein seinen
Platz finden mag. Der fotografierende Tote zieht den Grabbesucher
in den Bann seiner Endlichkeit; der Betrachter wird imaginär
zum Toten-Bild gemacht.
Was
haben aber die Lebenden davon, sich mit ihrer Sterblichkeit zu
konfrontieren? Sie sind die zukünftigen Toten, die wünschen,
erinnert zu werden. Vielleicht geschieht diese projektive Einverwandlung
schon vor dem gewöhnlichen Porträt. Die Identifikation
mit dem erstarrten Porträtierten läßt die
Hoffnung zu, nicht im Nichts verschwinden zu müssen.
© Gunnar Schmidt
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