Täuschungsmanöver

Wir sind eingetreten ins Zeitalter der Fälschung und der Täuschung. Fotografische Bilder, die früher angeschaut wurden als Beweisstücke aus der Wirklichkeit, haben keinen Anspruch mehr auf Vertrauen. Verzerren, hinzufügen, ausschneiden, schönen – dafür stehen raffinierte digitale Bildbearbeitungstools zur Verfügung. Wer es versteht, kreiert sich seine Wirklichkeit und gibt vor, was der Betrachter sehen oder glauben möchte.

Dass die Trugbildnerei dem fotografischen Verfahren auch ohne Computer fast von Beginn mitgegeben war, wird häufig vergessen. Die Retusche und die Montage, mal geschickt, mal weniger geschickt angewendet, wurden genutzt, um einzurichten, was anders gesehen werden sollte. Ob persönlich, politisch oder ästhetisch motiviert, die Fotografie gab als Repräsentant ikonografischer Glaubwürdigkeit einen Vorschuss an Authentizität, in die die Täuschung parasitär eingepflanzt wurde. Nur mit der Lupe, gewissermaßen mit detektivischem Ehrgeiz, war manchmal der Trug zu erkennen. Der genaue Blick aufs Bild liest dabei nicht nur die Spur des Eingriffs, er interpretiert im selben Zug das Motiv des Fälschers. Indem das wahre Bild rekonstruiert wird, erfahren wir, warum uns etwas vorgemacht wurde.

Rätselhaft werden die Verstellungen allerdings, wenn sie wohl ausfindig gemacht werden, ein Illusionsgewinn jedoch nicht aus ihnen dechiffriert werden kann. Fiktion ohne Motiv – gibt es das?
Auf zwei Postkarten, die um das Jahr 1926 entstanden sind, enthüllt sich durch Vergleich die Manipulation.



Vor die imposante Denkmalsanlage hat der Täuschungskünstler kleine Figuren montiert. Sie flanieren vorbei oder sind in die Betrachtung des steinernen Kaisers vertieft. Unser Blick geht von einer Postkarte zur nächsten und wir entdecken mit einem Mal, dass hier eine Figur fehlt, wo sie dort zu sehen ist, dass ein Passant gegen einen anderen ausgetauscht wurde, dass die Schattenwürfe mal vorhanden sind und mal fehlen. Kleine Differenzen, minimale Verschiebungen.
Verändert sich die Bildaussage? Werden wir in ein anderes Leben, eine andere Wirklichkeit transportiert bei der Passage von einem Bild zum nächsten?

Die Figürchen sind das Uneigentliche in der bildlichen Komposition und geben eher den Eindruck des Zufälligen. Es wird kein symbolschweres Element hinzugefügt oder herausgenommen, kein hässlicher Körper gegen einen schöneren ausgetauscht. Jemand spielt ein wenig mit dem Puppenhaus, mehr nicht.
Und doch geschieht etwas: Die Suche nach dem wahren Bild wird schnell vergessen und der Betrachter sieht hinter dem Naturalismus die Künstlichkeit hervortreten, die ihn nun betört. Plötzlich spricht das Bild für sich. Unter dem Nahblick entwickelt sich im ersten Entwurf eine surreale Qualität. Die reduzierten oder abwesenden Schatten verwandeln die Menschen in magrittesche Gespenster. Es scheint, als habe der Künstler sie hinbestellt, um sie unter der drohenden Wucht des Denkmals zu Inbildern des Untertanentums zu machen. Die wenig kontrastreiche Abbildung scheint das Grau des Steins auf die Miniaturmenschen zu projizieren, die darin zu verschwinden drohen.
Wie aufmüpfig dagegen auf dem anderen Bild die Frau mit weißer Jacke und weißem Hut, die sich gegen den schwarzen Schatten zu wehren scheint. Ähnlich auch das Paar in der Bildmitte, das in anregendem Gespräch vertieft ist, der Rock der Frau schwingt in gleicher Weise aus wie auch bei der Gestalt am äußeren rechten Rand. Hier herrscht mehr Lebendigkeit, das ist der Eindruck. Man möchte meinen, dass sie in Konkurrenz tritt zum Symbolgehalt des Monuments, das erstarrte Würde repräsentiert.
Also doch: ein Bildmotiv mit zwei Aussagen? Mit dem Lupenblick kommen wir den Bildern derart nahe, dass wir einer Wirkung erliegen, von der nicht zu sagen ist, ob sie einer Halluzination oder dem Kalkül einer Inszenierung entspringt.
Gefährliches Unterscheidungsvermögen? Halten wir also lieber die Fotografie am ausgestreckten Arm und überlassen uns der Täuschung durch die Montage, die nichts zu bedeuten scheint.

© Gunnar Schmidt