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Szenenfotos
Ich ging durch die Stadt inmitten von Verkehrsbrausen, Passantentreiben,
Lichterstrahlen, Schaufensterreizen. Nirgendwo Verweilruhe, überall
Geschäftigkeit, Farben, die dich vertreiben. Ich verschloß
den Blick und die Ohren, verweigerte das Sortieren der Eindrücke.
Körpervergessen eilte ich durch den Überfluß,
der nicht mehr als ein Rauschen war.

Erst unter der Arkade des Opernhauses verlangsamte ich den Schritt.
Schaukästen mit Schwarzweiß-Fotografien nahmen mein
Interesse gefangen. ... Photographien, großflächig
mit viel Dunkelstellen, die Wozzekaufführung, ein Stück
von Ibsen, Dürrenmatt, die Bilder enthielten viel Schwarz,
nur Nebensächliches, Hände, wie sie einen Knüppel
hielten, Mund, Nasenöffnungen, Augen, Stoffetzen, in dekorativer
Manier, es nahm sich gut aus, ein Mund, aufgerissen zu einem großen
Gelächter, einige Bretter, Stricke durch den Raum gespannt,
Netze, die Frau in dem Lehnsessel, das sagte etwas, besonders
die schwarzen Stellen, Nacht, Theater ...* Ich blieb
stehen. Die stillen Tableaus und die expressiven Antlitze versprachen
die Möglichkeit sinndichten Lebens. Ich vergaß die
hektische Stadt. Eine andere Realität deutete sich hier an,
stumm, in angehaltener Zeit. Blickversunken wurde ich zum Voyeur
von gefrorenen Szenen. Ich studierte die Schauspielerkörper,
aufgenommen in Momenten, in denen sie sich zu allegorischen Formationen
gefunden hatte. Menschliche Haltungen und Empfindungen präsentierten
sich mir als teillose, reine Einheiten: Ernsthaftigkeit, Zorn,
selbstgenügsame Eintracht und noch anderes. Jede Einzelheit
auf den Bildern verfügte über die Anmutung des Bedeutsamen.
Die spärlichen Requisiten interpretierte ich als Wortersatz,
in dem die Figuren ihr bedeutsames Leben darstellten. In der lautlosen
Fotobühnenwelt waren die Leiber und die Dinge arrangiert,
als gäbe es nicht den Lärm der Destruktion oder das
Maschinengehämmer der Produktion.
Die
ferne Bühne, so glaubte ich zu verstehen, war zu nichts anderem
erfunden worden, als Begegnungen zu ermöglichen. Die Fotografien
machten aus ephemeren Gesten, aus den Blicken von einem zum anderen
Inbilder konzentrierter Lebenssituationen. In ihnen herrschte
das Gesetzt der Reduktion, des Ausschlusses, aus dem die Überzeugungskraft
entspringt. Hier gab es keine Beiläufigkeit, keinen Zufall,
keinen störenden Hintergrund; die Bilder zeigten weder bedeutunglose
Banalitäten noch ausdrucksarme Alltagsgesten. Reste, Ungeordnetes,
Nichtssagendes, Überschüssiges existierten in der Klarheit
des Schwarzweiß nicht. Die Fotografien, ordentlich nebeneinander
und untereinander aufgereiht, wider-sprachen dem Leben, das sich
hinter meinem Rücken kummerlos und betriebsam fortsetzte.
Sie wirkten nicht durch Größe, Lautstärke, erkennbares
Raffinesse oder eindringliche Fülle. Ich ging in ihre Falle,
blieb bei ihnen stehen, weil sie durch Knappheit auf sich aufmerksam
machten. Ihr Reichtum an Information und Emphase enstand durch
die Würde des Details und des Ausschnitts. Ich bemerkte,
daß das Durcheinander hinter mir nichts zueinander kommen
ließ, keinen Vertrag, kein Verständnis duldete. Ich
verstand beim Betrachten der fotografierten Theaterwelt, daß
die Botschaft im Sonderbaren, Einzelnen, Unver-wechselbaren steckt.
Die Bilder wollten mich verführen; ich sollte die Straße
verlassen, ins Haus treten. Man versprach mir eine Geschichte,
die Verlebendigung der erstarrten Körper, Münder, die
Worte sprechen sollten. Was das Bild nur andeutete, sollte zum
Ganzen ausgeführt werden.
Im dunklen Raum des Theaters würde ich die Bilder in den
Glaskästen vergessen, die Geräuschwolke der Stadt überhören.
Die Bühne würde unter dem Tritt der Schauspieler hölzern
dröhnen. Die flachen Bilder würden sich in dreidimensionale
Körper verwandeln. Ich würde die Grenze zwischen fester
Klarheit und entropischer Dynamik, zwischen Einsamkeit und Menschenmenge
verlassen haben.
Ein kalter Wind wehte durch die Arkaden. Er trieb mich fort, ich
verschwand im Trubel der bewegten Welt.
*
Rolf Dieter Brinkmann, Guten Tag wie geht es so, Reinbek
b. Hamburg 1996, 63-64.
©
Gunnar Schmidt
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