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Swanns Welt
"Er verbachte seine Tage über einer Karte des Waldes von
Compiègne, als sei sie die >Carte du Tendre<, und umgab
sich mit Photographien von Schloß Pierrefonds."
Mit
diesem Satz von Marcel Proust (Eine Liebe Swanns) werden
wir in die Verhaltenswelt des Verliebten geführt, der sich
von der Wirklichkeit absondert. Wie der Künstler vertraut
er auf das Bild, auf die Sublimierung der Wirklichkeit durch die
Verstellung mit Zeichen, die ihn ins Traumreich der Wünsche
bringt. Prousts Held Swann ist Ästhetizist, der die Erhabenheit
des Liebesgefühls durch den Akt der Verkünstlichung
hervorzurufen vermag: Als er eine Ähnlichkeit zwischen seiner
Geliebten Odette und einer Figur in einem Fresco Botticellis auffindet,
meint er, die Schönheit und den Wert der Frau erst wirklich
erkannt zu haben. Mit dieser Initiation gelten fortan der Kuß
und die Umarmung nicht der vergänglichen Frau, sondern der
Frau als Kunstwerk. Auf seinen Schreibtisch stellt Swann das Bild
der Geliebten in Gestalt einer Reproduktion der Botticelli-Figur,
die er wie "eine Photographie von Odette" bewundert. Diese
Reproduktion des Kunstwerks, das selbst nur eine veredelnde Reproduktion
der Person Odettes darstellt, wird zum seligmachenden Liebesobjekt
erhoben: "Wenn er den Botticelli lange genug betrachtet hatte,
dachte er an seinen Botticelli, den er noch schöner fand,
und während er die Photographie der Sephora näher an
sich heranzog, glaubte er, Odette ans Herz zu drücken."
Laure Hayman
Der
Liebende lebt im Glanz der Oberfläche, die ihm sein Verlangen
in Form von Idealisierungen spiegelt. Er nimmt die Reproduktion
der Reproduktion für das Wahre und bemerkt nicht, daß
er doch erst herstellt, was er vorzufinden meint. Dem ästhetizistischen
Künstler, dem Liebenden ist die Wirklichkeit zu trist, als
daß sie die Leidenschaften zu wecken vermöchte. Sein
Begehren manövriert ihn in eine zwiespältige Situation:
Er achtet sein Objekt und findet Genuß - doch nur in der
betörenden Falschheit der Bilder, mit denen er seine Vorstellungen
füttert.
Diese
Situation hat ihr Negativ: Endet die Liebe, wandelt sich der Künstler
zum Wissenschaftler, der dem Schein nicht mehr traut. Proust zeigt
uns Swann als einen eifersüchtigen Lichtsucher, der die Zeichen,
die ihm ehedem Liebe, Schönheit und Lust gaben, nun als trügerisch
erlebt. Er geht daran zu spionieren, zu fragen, Mißtrauen
zu hegen, Handlungen auszuführen, die ihm wie "das Entziffern
von Texten, das Vergleichen von Augenzeugenberichten und die Interpretation
von Baudenkmälern als durchaus ernstzunehmende Methoden wissenschaftlicher
Forschung" erschienen. Im Forscher haust der Haß; mit
Argwohn betrachtet er das Phänomen und das Bild, von denen
er sich beständig getäuscht sieht. Enthüllung ist
sein Geschäft.
Ohne
die Bilder, doch mit der Wahrheit ausgestattet verliert Swann
den Respekt für Odette. So geschieht es, daß er seine
Botticelli-Reproduktion vergißt und nach Fotografien kramt,
die er mit der wirklichen Odette vergleicht. Bild und Wirklichkeit,
die der Liebende in der Vorstellung zusammenschweißte, reißt
der Wissende auseinander. Der ernüchterte Swann weiß,
daß man den Bildern Retuschen zufügen, mit Legenden
ihnen den Eindruck des Authentischen geben kann. Kaltmütig
betrachtet er das nackte "Glanzpapier" der Fotografie und
stellt fest, daß er Odette gar nicht dem ähnlich findet,
wie er sie einmal in sich verspürt hatte. Seine Recherche
läßt ihn gar befürchten, daß aus der verliebten
Vergangenheit eine "widerwärtige Gestalt, ein teuflisches
Antlitz" erstehen könnte.
Der
Schriftsteller entwirft ein pessimistisches Szenario: Sind wir
von Bildern umstellt und eingenommen, liegt das Glück in
der Täuschung; entscheiden wir uns für die Wahrheit,
geben wir die Glücksmöglichkeiten her. Der Zauber verfliegt
im permanenten Zweifel.
Proust
war als junger Mann in Laure Hayman verliebt, die das Vorbild
für Odette bildete; und er sammelte Fotografien von seinen
Freunden. Sein Roman ist dennoch mehr als eine autobiographische
Reflexion über die Liebe und das Bild: Er beschreibt die
Moderne, in der der Weltbewohner die Realität medial, als
"Bilderfolge" erlebt. Sie zwingt uns in die Rolle des Verehrers
oder des Zweiflers. Der Bildkontakt schenkt uns Naivität
- oder den Schmerz darüber, das nichts ist, wie es erscheint.
© Gunnar Schmidt
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