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Im Strudel
Am
Beginn des 20. Jahrhunderts kommt die Kunst in und zur Bewegung.
Es ist die Zeit der Ismen: Expressionismus, Kubismus, Konstruktivismus,
Dadaismus, Surrealismus. Die Welt braucht ständig neue Bilder,
wie auch die Kunst in einer sich modernisierenden Welt nicht veralten
möchte.
An
dem Projekt einer Formfindung in einer Wirklichkeit, die nicht
stillsteht, sind die Futuristen und Vortizisten beteiligt. Sie
erklären den Realismus für tot, der mit seiner Illusion
der Nachbildung nicht mehr dem entspricht, was dem modernen Bewußtsein
zustößt. Wie soll man erfahrbar machen, was die Wahrheit
einer drehenden Turbine ist? Man muß nicht nur neu sehen,
sondern auch gestalten, was sich dem Sehen nicht preisgibt: Energie,
Kraft. Die Maschine wird als Zentrum der Modernität verehrt,
weil sie erzeugt, verändert, fortreißt.
Alvin
L. Coburn
Der
Futurist liebt motorisierte Fahrzeuge. Mit ihnen flieht er aus
der Vergangenheit in die technifizierte Gegenwart. Der Vortizist
imaginiert sich im stillen Zentrum eines historischen Strudels,
eines Vortex, in dem die Erfahrungen der Geschichte von
den Bewegkräften der Moderne vitalisiert werden. Beide Protagonisten
ziehen aus diesen Dynamiken, aus dem Fluß der Bilder ihre
Inspiration: Sie vervielfältigen die eindrücklichen
Momente, die Orte und Perspektiven, um sie zu durchmischen. Sie
setzen auf den Schwung. Keine der traditionellen Künste bleibt
von der Revolution der Künstler verschont, sei es Malerei,
Skulptur, Literatur, Musik oder Architektur. Bemerkenswert daran
ist, daß die neueste der Künste und Inbegriff des Technischen,
nämlich die Fotografie, eine nur untergeordnete Rolle in
der Umwälzung spielt. Der Grund dafür liegt in dem konservativen,
realistischen Charakter der Fotografie begründet, die ja
zunächst nur festhält und lediglich monoperspektivisch
die Weltaspekte zu erfassen in der Lage ist. Das konnte die Avantgardisten,
interessiert am Eingriff und an der freien Gestaltung, nicht faszinieren.
Zur Kenntnis hatten sie allerdings die aufregenden Experimente
der Chronofotografen Muybridge und Marey aus dem späten 19.
Jahrhundert genommen, die Bewegungen als Serie sukzessiver Augenblicke
in einem Tableau dargestellt hatten. Zwar waren auch diese Bilder
als wissenschaftliche Notate gedacht, doch gaben sie eine Ahnung
davon, daß mit der Fotogafie mehr möglich sei als die
bloße Nachgestaltung eines erstarrten Momentes in raumperspektivischer
Sicht.
Um
so begeisterter war die Reaktion, als A. G. Bragaglia den futuristischen
Fotodynamismus und A. L. Coburn die Vortographie entwickelten.
Coburn arbeitete räumlich, indem er seine Objekte in eine
Spiegelkonstruktion setzte. Mit Hilfe dieser Vorrichtung konnte
der Gegenstand in Segmente aufgespaltet und kompositorisch gestaltet
werden. Durch die Brechung und multiperspektivische Widergabe
verschiedener Aspekte zerbricht der plane Realismus. Im Sinne
des Vortex: Die Bilder kreisen um das Zentrum einer vorgestellten
Vollständigkeit. Der Dichter Ezra Pound, einer der Wortführer
des Vortizismus, konnte euphorisch ausrufen: "Die Kamera ist von
der Wirklichkeit befreit."
Die
futuristische Fotokunst nahm sich der vierten Dimension an, der
Zeit. Ähnlich wie bei Muybridge und Marey wird Bewegung aufgezeichnet.
Jedoch sollten gegen die Vorläufer die Intervalle der Bewegungsphasen
ausgelöscht werden, um eine Aura dynamischer Kontinuität
und körperlicher Auflösung zu erzeugen. Nicht das Nacheinander,
sondern das Durchdringen in der Bildüberblendung war das
Ziel. Bragaglias Foto eines Gitarrespielers gibt nicht nur verschiedene
Augenblicke wieder, die durch veränderte Handpositionen angezeigt
werden. Das Bild ist vernebelt von den Bewegungsspuren der Hände.
Instrument und Spieler scheinen sich zu durchwehen. Die Bilder
erinnern weniger an die harten Aufnahmen der Chronofotografen
als an Gespensterfotografien. Der Körper erscheint als semitrans-parenter
Schleier, wird ein Flüchtling durch die Zeit.
Vortizismus
und Futurismus zerreißen das Ideal perspektivischen Sehens,
das immer einen imaginären Rahmen aufbaut, durch den die
Dinge (an-)geordnet werden. Den neuen Bildern unterliegt die Behauptung,
daß es die Weltsache nicht gibt, allenfalls ein Nachbild
davon, das bereits von einem Aktualbild überlagert ist. Die
avantgardistische Fotografie zeigt die Dinge nicht angemessener
als die traditionelle Fotografie, aber sie lenkt die Aufmerksamkeit
darauf, daß sie nicht einfach zu haben sind. Vielleicht
versuchen die Bilder das Unmögliche: Zeigen, das es den Entzug
gibt.
© Gunnar Schmidt
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