Steine

Sie ist eine Sammlerin. Sie erzählt, wie sie am Wasser entlang geht und mit jedem Schritt hofft, einen Fund zu machen. Sie liebt die Steine, jene, die das Wasser handschmeichelnd gemacht hat. Sie glaubt nicht an ihre Kälte, sondern an die Zärtlichkeit, die die Wellen in sie hineingerieben haben. Ein bißchen will sie an diesem Liebesspiel teilhaben. Sie bückt sich, hebt einen Stein auf und wärmt ihn. Sie wiegt den Stein in der Hand, bewegt ihn, sucht, wie er am besten zu halten ist. Gefällt ihr einer ganz besonders, läßt sie ihn in der Tasche verschwinden und trägt ihn nach Hause.

Doch ist sie nicht nur Hand, sondern auch Auge. Sie sucht die Schönen zwischen den wenig Scheinbaren: die besondere Farbe, das ungewöhnliche Muster, ein Leuchten, den petrifizierten Einschluß, ein Kristallschimmer. Manchmal zeigen sich die Schönheiten in solcher Menge, in solcher Größe, in diesem einen Licht, daß sie ganz blickverloren ist. Dann greift sie zur Kamera, fotografiert, um das Schauspiel als Bild mit nach Hause nehmen zu können.

Sie vereinigt in sich den Sammler und den Fotograf, die einander ähnlich sind. Beide. bevor sie etwas aus der Welt nehmen, um es woanders zu einer eigenen Sinnwelt zusammenzusetzen, warten auf eine Begegnung, die sie suchen. Sie gehen dorthin, wo sie das bestimmte Unbestimmte vermuten.

Findet die Begegnung tatsächlich statt, wird sie bewahrt. In der Sammlung, in der Fotografie. Der Sammler, der Fotograf, sie sind Melancholiker - vielleicht -, weil sie die Trennung nicht bewerkstelligen, erleiden mögen. Sie verwandeln das endliche Erleben an den Dingen in eine unendliche Meditation über die Dinge. Das ist ihr eigentlicher Reichtum. Diese Ambivalenz zwischen Leben und Tod, Gewalt und Bewahrung hat Walter Benjamin so beschrieben: "Der Melancholiker verrät die Welt um des Wissens willen. Aber ihre ausdauernde Versunkenheit nimmt die toten Dinge in ihre Kontemplation auf, um sie zu retten."

Richard Long: Fire Rock Circle, 1987

Die Steinesammlerin und -fotografin ist eine sanfte Gewalttätige, denn die Sammlung und die Fotografie, die jeder Bewegung und Entwicklung Gewalt antun, weil sie sie unterbrechen, finden in den Steinen willfährige Objekte. Ihre Wandelbarkeit ist von solcher Langsamkeit, daß ein Foto oder eine Aufstellung doch nur bewahrt, was uns an ihnen charakteristisch erscheint: die Beständigkeit.
Dabei hat die Fotografie gegenüber der Sammlung die größere Verwandlungskraft. Gerahmt und ihrer natürlichen Ausdehnung beraubt, zeigen die Bilder, was die Sammlerin längst gesehen hat: daß hinter dem Schein der Schönheit Verbindungen und Symbole stecken. Sie sieht durch die verrückende Dimensionierungskraft der Fotografie, daß die Natur fraktal ist. Der kleine Stein erscheint jetzt als die Kopie des großen oder umgekehrt. Die Perspektive und der Bildausschnitt lassen aus einem Umriß einen Kopf hervortreten, eine Furche zeigt das Geschlecht einer Frau. So sucht sie nach dem Erkennbaren im Zufälligen - als dürfe die Welt nicht sich selbst überlassen bleiben.

Zeigen sich die Naturdinge resistent gegen die Kontemplation und geben keinen Sinn her, dann geht sie hinaus, sammelt Steine auf, um sie zu einem Kreis zu legen, um kleine Haufen aufzuschichten. Das ist unnütz und aufgeladen mit Sinn - der Beginn von Kultur: Geometrie, kleine Architektur, Religion.
Davon macht sie ein Bild.

© Gunnar Schmidt