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Schnitte
1.
Schnitt. Jedes fotografische Bild entsteht aus einem Akt, der
konstruktiv und zugleich gewalttätig ist: Mit dem Auslösen
des Verschlusses setzt der Fotograf einen Schnitt gegen die Zeit,
gegen Bewegungen, gegen Kontexte, Umwelten, gegen Geräusche
und Dialoge. Das Bild ist gegenstandgewordenes Phantasma eines
Ist-Zustandes, das das Segment als ein Ganzes deliriert. Fotografische
Wirklichkeit ersteht in dieser Perspektive nicht aus einer bloßen
Abbildung von etwas Anwesendem, sondern hat zur Bedingung die
Reduktion und Abschattung realer Wirklichkeit. Der Fotoapparat
ist eine Maschine, mit der Eingriffe bewerkstelligt werden, mit
der Sektionen an der Realität vorgenommen werden. Beim Schauen
auf die Teile vergessen wir oft, fasziniert durch die stille Präsenz,
daß die abgebildeten Dinge umgeben waren von einer unendlichen
Fülle sichtbarer und unsichtbarer, nun agbeschnittener Verknüpfungen.
Der Fotoapparat ist eine Beschneidungsmaschine.
2.
Schnitt. In den 30er Jahren dieses Jahrhunderts beginnt der amerikanische
Neurologe Walter Freeman mit chirurgischen Experimenten
am Gehirn von psychisch kranken Menschen, vor allem von Frauen.
Durch Schnitte in die weiße Substanz des Stirnlappens sollten
"geistige Störungen" beseitigt werden, u.a. Zwangssymptome,
Depressionen, Psychosen, Alkoholismus, Hysterien, Selbstmord-ideen
oder Angstzustände. Die präfrontale Lobotomie sollte
für mehrere Jahrzehnte eine neurologisch-psychiatrische Praxis
begründen, die Leiden und Unangepaßtheit mit einem
raschen Eingriff zu beseitigen, fortzuschneiden suchte. Die Psychochirurgie
muß als eine medizinische Körperpolitik betrachtet
werden, die gegen Psychoanalyse und -therapie angetreten war.
Psychoanalyse ist von jeher an längere Zeiträume der
Veränderungsprozesse geküpft, die Selbsttätigkeit,
Einsicht und Erfahrung des Patienten einschließen, und die
Individualisierung und Differenzierung zum Ziel haben. Durch eine
geglückte Psychoanalyse lösen sich nicht nur benennbare
Störungen und Symptome auf, sonders es wird Komplexität
ermöglicht und es werden Lebenspotentiale aktiviert.
Psychochirurgie hingegen hat als Therapieziel Körper- und
Menschenbilder, deren Inhalt Unauffälligkeit und Angepaßtheit
ist. Sie versucht, eine zweckrationale Technik zu sein, mit Hilfe
derer die Einnormierung an eine scheinbar unproblematische Alltäglichkeit
zu Wege gebracht werden kann. Ich denke an jene 35jährige
Frau, eine Patientin Freemans, die an einer andauernden Wochenbett-psychose
litt. An ihr wird eine Lobotomie durchgeführt. Freeman schreibt:
"Eine Woche nach dem Eingriff beantwortet sie zum ersten Mal Fagen.
Nach ihrer Heimkehr kam sie wieder recht gut in Ordnung und war
wieder brauchbar." Dieser Aussagetypus kehrt in der Rede
des Arztes wieder und wieder und beschreibt ein Leben, das nichts
als ein entstörter Minimalprozeß ist. Menschenleben,
Frauenleben werden zurechtgeschnitten, so daß lediglich
ein nötiges Mindestmaß Triebäußerung erhalten
bleibt. Reicht eine Operation nicht aus, der Störung ihren
"Stachel" zu nehmen, wird ein zweiter Schnitt gesetzt: Symptom
um Symptom wird aus dem Gehirn geschabt; Geschichte, Wünsche,
Intensitäten werden gekappt.
3.
Schnitt. In seinem Buch Psychochirurgie, in dem Freemann
Theorie, Verfahren und Wirkungsweisen der Lobotomie beschreibt,
sind eine Reihe von Fotografien von Patientinnen und wenigen Patienten
reproduziert. Fast alle Aufnahmen folgen dem bekannten Vorher-Nachher-Schema:
Eine Fotografie zeigt die Patientin vor dem Eingriff, eine oder
zwei weitere präsentieren sie in kleineren oder größeren
Zeitabständen nach der Operation. Dieses Schema, das die
Medizin seit dem 19. Jahrhundert kennt und das über Jahrzehnte
auf den Kosmetikseiten von Frauenzeitschriften eine populäre
Fortsetzung gefunden hat, wird durch eine Röntgenaufnahme
des Schädels ergänzt, auf dem die Schnittführung
im Hirnlappen zu erkennen ist.
Wie jede Vorher-Nachher-Fotografie folgt auch diese offensichtlich
einer Rhetorik der Beweisführung: Der Betrachter soll die
Veränderung zum Guten wahrnehmen; der verzweifelte Gesichtsausdruck
ist einem zufriedenen gewichen. Die Einfachheit dieser Überzeugungskunst
überscheint gleichsam die Komplexität der Kranken-geschichte
und kommt dennoch dem Geist der Psychochirurgie nahe. Die Bilder
stellen Zeitschnitte dar, die einen Wechsel von einer seelisch-körperlichen
Verfassung in die nächste demonstrieren sollen. Sie propagieren
ein Leben der Ist-Zustände, der Lebensstandards. Die Schädelaufnahme
erfüllt in diesem Schema nicht nur die Funktion eines chirurgischen
Belegs, in ihr strahlt die Magie des Moments der Veränderung:
Nur ein kurzes Stillehalten, ein Skalpell dringt in die weiße
Masse des Gehirns und die Metamorphose ist vollbracht.
Die Bildunerschriften artikulieren das Ideal der chirurgischen
Psychiatrie, ein Ideal, in dem das simple Leben als Inbegriff
der Gesundheit erscheint: "Sie hatte beträchtlich an Gewicht
zugenommen, war ziemlichindolent, jedoch in guter Stimmung. Ihr
Hauswesen hielt sie in Ordnung." Zu einem anderen Bild: "Die
Patientin war drei Jahre lang gut beisammen. Der Blutdruck fiel
von 240 auf 220." Oder: "Ein Jahr nach der Operation. Die
Patientin führt den Haushalt."
In der Lakonie dieser Sprache bezeugt sich ein Machbarkeitswille,
der das Verstümmelte, Reduzierte, Beschnittene als erfolgreiche
Resultate seiner Handgriffe zeigt.
Die Schlichtheit des psychiatrischen Lebenskonzepts, das die Legenden
bekunden, wird auf der Bildeben komplementiert. Medizinische Fotografie
konvergiert mit jenen bereits erwähnten Bildern von den Schönheitsseiten
der Frauenzeitschriften. Hier wie dort wird der Körper zu
einem modellierbaren Anschauungsobjekt, der das Sein allein als
Oberflächenschein inszeniert. Das Nachher-Fotos stellt nicht
nur einen Augenblick zur Schau, in dem eine glückstrahlende
Physiognomie erschien, es operiert ebenso mit den Zeichen der
Mode- und Kosmetikbranche: Wo vorher ein Nachthemd oder eine nackte
Schulter zu sehen war, da ist nachher ein hübsches Kleid
oder Bluse zu besichtigen; wo vorher das Haar ungekämmt war,
da ist nachher die feine Frisur zu sehen; wo vorher das blasse
Gesicht sich zeigte, da ist nachher ein geschminktes zu betrachten.
Kosmetik und Psychochirurgie produzieren Körperbilder, Gesichtsbilder,
aber sie vernichten - emphatisch gesprochen - Antlitze. Für
den Philosophen Emanuel Levinas ist das Antlitz etwas, das sich
der Wahrnehmung entzieht, in einer Unendlichkeit die Besonderheit
des Individuums bewahrt und zum Inhalt nicht werden kann. Das
Gesicht, wie es in der Fotografie und in der Psychiatrie erstellt
und gesehen wird, ist Stellvertreter enger Bedeutung: Es zeit
Krankheit, Schönheit, Ernsthaftigkeit, Fröhlichkeit
oder Niedergeschlagenheit usw. Das Antlitz wird zu einem Objekt
der Anschauung, zu einer Entsprechung und entstellt sich zur Pose
des Gesichts.
Psychochirurgie und Fotografie arbeiten mit je eigenen Schnittechniken
und kommen so zu Bildern vom Menschen. Sie beschneiden die Vielfältigkeit
oder Unendlichkeit individueller Wirklichkeiten. Der Neurologe
Freeman bringt beide Techniken zusammen, ihre Korrespondenz wird
in den Dienst medizinischer Zurichtungen genommen. Derart werden
aus Menschen einfache, zeigbare Einheiten gemacht - Zuschnitte.
© Gunnar Schmidt
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