Schleier

"Über der Strecke, bei einem Lorbeerwald,/da umfing ich sie mit all ihren Schleiern und bekam ein/leises Gespür von ihrem grenzenlosen Körper." Rimbauds Verse, geschrieben am Ende des 19. Jahrhunderts, stehen in der langen Tradition philosophisch-allegorischer Vorstellungen, wonach die verschleierte Frau sowohl Sinnbild erotischer Verheißung als auch eines Wahrheitsversprechens ist. Nietzsche, Zeitgenosse Rimbauds, wendet die Allegorie in ähnlichem Sinne, wenn er in einem Fragment davon spricht, daß ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten auf dem Leben liege, "verheißend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja”, sagt der Philosoph, "das Leben ist ein Weib!" Das Bild von den verführerischen Schleiern spielt mit dem Geheimnisvollen und bewirkt den psychologischen Effekt des Verlangens nach Entschleierung. Der Wunsch mag die Richtung der Besitznahme oder der Erforschung unabsehbarer Gründe einschlagen, immer ist er an das Phantasma eines zu erwartenden Moments der Erfüllung im Dunkel des Unsichtbaren geknüpft. Die Hülle erfindet das Mysterium, das Rätsel, Zu-Entdeckende. Allerdings entzündet sich das Wünschen nicht an der einfachen Opposition zwischen sichtbarer Oberfläche und unsichtbarer Tiefe; an der Oberfläche muß sich in der Art eines Symptoms das Versteckte abzeichnen. Die Menge der Schleier in den Versen des Dichters oder ihre Golddurchwirktheit bei Nietzsche geben, so möchte man glauben, eine Ahnung von dem Charakter des verkleideten Körpers, von seinem Reichtum. Die konkret-sinnliche Form der Verhüllung ist das Medium für Andeutungen. Doch mag der erwartungsvolle Blick auf das Äußere der Verkleidung sich täuschen, denn vielleicht ist sie nichts anderes als eine Simulation der Hintergründigkeit. Wer wäre fähig, allein durch bloßen Augenschein zu entscheiden, ob das Schleierkleid tatsächlich das Verheißene enthält. Wir wissen nicht, ob die Hülle Dienerin einer Wahrheit ist oder täuschendes Simulakrum.

Gatian de Clérambault

Ein Hobbyfotograf, der französische Psychiater Gatian de Clérambault, hat die Strecke zwischen Erotik und Wahrheit, Kunst und Wissenschaft auf eigenwillige Weise abzustecken gewußt. Er beginnt auf einer Reise nach Nordafrika im Jahre 1912 damit, verschleierte Frauen zu fotografieren. Es ist überliefert, daß er bei seinen verschiedenen Aufenthalten in Marokko eine Unzahl von Bildern angefertigt hat, von denen allerdings nur noch eine kleine Anzahl im Musée de l'Homme in Paris aufbewahrt werden. Man könnte meinen, Clérambault nehme in seinen fotografischen Arbeiten ein Thema auf, daß ihn in seiner psychiatrischen Praxis bereits beschäftigt hatte, nämlich die erotische Stoffleidenschaft bei der Frau. Was aber der Wissenschaftler über das Objekt des Interesse auszusagen weiß, ist oft genug nur eine Möglichkeit des forschenden Subjekts, sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Clérambaults eigene Leidenschaft für die Stoffe nimmt offiziell den Charakter ernsthafter Studien an, denn er beginnt nach seinen Reisen, historische und klassifikatorische Studien über Draperien zu verfassen und lehrt nebenher unentgeltlich an der École des Beaux Arts, wo er seine Erkenntisse in der Kostümforschung vorträgt. Der Arzt und der ethnologische Gewandforscher Clérambault stellen in ihrer öffentlichen Gestalt keine Spaltung dar, denn in beiden Sphären gilt das wissenschaftliche Credo der Beobachtung, einer phänomenologischen Haltung, die die Oberfläche als den eigentlichen Ort der Erkenntnis betrachtet.

Seine Fotografien von verhüllten arabischen Frauen nehmen eine besondere Stellung in der Geschichte ethnologischer Bildforschung ein. Diese war zum ausgehenden 19. Jahrhundert unter dem Diktat bio-anthropologischer Voreingenommenheit vornehmlich an nackten Tatsachen interessiert: Die fremden Rassen wurden unbekleidet vor die Kamera gebracht, um anthropometrische Studien mit ihnen anstellen zu können. Ähnlich, jedoch ohne wissenschaftliche Verbrämung, verfuhr die populäre Postkartenfotografie, deren Produkte vor allem an europäische Touristen und französische Kolonialsoldaten verkauft wurden. Mit voyeuristischem Blick zeigten diese Bilder Szenen aus dem Harem und Frauen, die ihre Schleier lüfteten, um ihre Haut auf den Markt zu tragen. Das Verbotene, das Unberührbare, die verschlossene Welt wurden überführt in ein erotisch-wissenforderndes Bildspiel der Enthüllung, eines, das unverkennbar an eine männlich-imperialistische Politik geknüpft war.

Clérambaults fotografische Gewandstudien zeigen das erotische und epistemologische Gegenmodell, nämlich die Achtung vor der Verkleidung, die Zeichensinnlichkeit der Stofftextur und des -wurfs. Der Körper erscheint in seiner Perspektive lediglich als Anheftungsstelle für die Draperie, die eine Art zweiten Körper bildet, einen Kunstkörper. Die Möglichkeit eines zweiten Körpers hatte er bereits in seinen psychiatrischen Untersuchungen zur Stoffleidenschaft beschrieben; in einer Falldarstellung heißt es: "Die Steifheit der Seide ist eine Eigenschaft, die bisher weniger untersucht und definiert worden ist als die Qualität der Neuheit und der Feinheit. Hier muß die Seide nicht nur delikat die Haut streifen; sie muß auch Körper haben." Dieser Kunstkörper hat nun allerdings auch bei Clérambault ein doppeltes Schicksal. In seiner publizistischen und lehrenden Tätigkeit versucht er, ihn mit einer kalten Blickparteilichkeit zu klassifizieren und zu typologisieren. Daneben unterhielt Clérambault eine intime Beziehung zur Draperie, denn er pflegte nicht nur in seinen Kunstklassen den Stoff um Gliederpuppen zu legen, um an ihnen die Wirkung des Gewandes zu demonstrieren, er legte sich selbst in der Abgeschiedenheit seiner Villa einen griechischen Peplos an und wandelte darin in seinem Garten umher. War das Kostüm unter dem sezierenden Blick gleichsam erstorben, so wurde es nun zum Leben erweckt. Zu dieem biographischen Detail stellt sich der erstaunliche Umstand, daß er seine Fotografien, so weit dies bekannt ist, nie einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Waren sie seine imaginären Gefährten oder Doubles, Abbilder der eigenen Neigung zum Verbergen? Der Forscher als Frau, die ihr Gesicht, ihr Geschlecht nicht zeigt?

Der Blick auf die Fotografien läßt in der Tat die Vermutung aufkommen, daß sie aufgrund ihrer ästhetischen Präsenz die wissenschaftliche Kalkulation der Ordnungsstiftung unterliefen. Der üppig fließende Stoff, die Faltenwürfe, die Aufbauschungen und verschwindenen Enden widersetzen sich der begrifflichen Erfassung. Die verhüllten Frauen in ihren Posen figurieren nicht für einen ethnologischen Realismus. Eher scheinen sie Belege für die illusionäre Kraft der Kunst zu sein. Tatsächlich erinnern sie an die Tradition malerischer Gewandstudien, wie sie vor allem in der Renaissance und im Barock betrieben wurden. Die Meister malten oder zeichneten Gewänder, wobei sie oftmals auf jegliche Ausführung der Körper verzichteten oder diese in nur wenigen Strichen andeuteten. Das Gewand war der einzige Protagonist dieser Malerei. Auch wenn die Studien dienende Funktion hatten im Sinne einer späteren Einpassung in ein Gesamtensemble, so ging es dennoch darum, im Tuch das Phantom des Körpers anzudeuten. Das Tuch sollte, wie Leonardo da Vinci einmal schrieb, so drapiert werden, "daß es nicht unbewohnt aussieht, daß heißt, daß es nicht aussieht wie eine Faltendrapierung, in der kein Mensch steckt". Das Gewand spielte die Rolle einer Andeutung auf etwas Unsichtbares. Das Bild, reines Oberflächenwesen, operiert unverkennbar auf der Ebene der Verführung, denn es zeigt Dinge und verfügt dabei nicht über körperliche Tiefe: Illusion des Körpers. Clérambaults Gewandfotografien mögen auch für ihren Urheber diese Eigenschaft der vorgetäuschten Lebendigkeit besessen haben; diese Erotik des ikonographischen Schleierkörpers fordert den verliebten Blick ein, nicht den der Klassifikation. Das bewohnte Tuch - mit diesem schönen Ausdruck Leonardos werden auch die Bildobjekte des Kostümforschers beschreibbar, vor allem in ihrer Ambivalenz: Die Vision stofflicher Fülle enthält das Versprechen auf Lebendigkeit, die das Bild jedoch nie realisiert; allein in der Gefahrenzone der Imagination, jenseits der Schemabildung, wird die sinnlich-ausdrucksreiche Oberfläche belebbar. Das Innere der Bildexistenz, der Schleier bleibt verschlossen oder existiert vielleicht gar nicht; so mag man sich täuschen oder vor der Ent-Täuschung schützen.

Nachtrag: Es drängt sich der Eindruck auf, daß Clérambault, der die Tiefe nicht befragen wollte, ihr dennoch nicht entgehen konnte. Die öffentlich praktizierte Wissenschaftlichkeit mit ihrer rhetorisch dargereichten Kühle und Distanz scheint die private Leidenschaft für die Kunst des Stoffes und der Verhüllung zu verbergen. Unter einem bestimmten Aspekt können seine Fotografien als verschlüsselte Allegorien gesehen werden: Auf vielen seiner Bilder deutet sich die Tiefe und die Dunkelheit des Körpers in Form der Sichtschlitze an, in dessen Schatten wir die Blicke der marokkanischen Frauen vermuten. Diese Blicke aus dem Verborgenen sind wie eine Korrespondenz zum Blick des Arztes, der sich im Schutz seiner Wissenschaftlichkeit nicht offenbaren will. Was sich hinter dem Schleier tatsächlich zuträgt, das weiß nur der Bewohner dieser Behausung.

© Gunnar Schmidt