Der Perseus-Komplex

Perseus hatte auf einem Fest dem Gastgeber Polydektes versprochen, das Haupt der Gorgo Medusa als Gabe beizubringen. Dies war ein großes Versprechen, denn noch nie war ein Sterblicher lebend von den Gorgonen zurückgekehrt. Der Anblick dieser Ungeheuer mit Schlangenhaaren, gefährlichen Hauern und riesigen roten Zungen war so schrecklich, daß sich Mensch und Tier in Stein verwandelten. Zwei der Gorgonen waren unsterblich, Medusa hingegen war sterblich. Für sein Unternehmen erhielt Perseus die Hilfe Athenes, die die Medusa haßte: Sie schenkte ihm ein spiegelndes Bronzeschild. Von den Nymphen erhielt er zudem Flügelschuhe für die Reise, einen Mantelsack für die Trophäe und eine Tarnkappe. Hermes gab dem jungen Mann zuguterletzt ein Sichelschwert. Bei den Gorgonen angekommen schaute Perseus ihnen nicht direkt in die Gesichter, sondern orientierte sich am Spiegelbild seines Schildes. Mit einem Schlag seines Schwertes schlug er der Medusa den Kopf ab und steckte ihn in den Sack, da der Anblick des toten Kopfes noch tödlich wirkte.
Diese Wirkung machte Perseus für sich zunutze, als es zu einem Kampf mit Phineus kam. Gegen die Übermacht des Feindes konnte er sich dadurch erwehren, daß er das Medusenhaupt aus dem Sack hervorholte und das schreckliche Antlitz Phineus und seinen Kriegern entgegenhielt, ohne selbst hinzuschauen. Die Gegner erstarrten zu Stein.

Combat Photographer

In diesem Mythos begegnen wir der Gestalt des modernen gerüsteten Kriegers, eines Kriegers, der flugfähig, unsichtbar, mit tödlichen Waffen ausgestattet ist. Und der über ein Bildmedium verfügt. Das Spiegelbild distanziert Perseus vom Geschehen, bannt die Gefährlichkeit des Gegners und vermittelt die Kampfhandlung. Wenn heute die Waffensysteme aus fliegenden, getarnten Erkennungs- und Zerstörungsapparaturen bestehen, so scheinen sie die Realisie-rung jener durch Technik erzeugten mythischen Allmacht zu sein, die der Held Perseus repräsentiert.

Doch erzählt der Mythos nicht nur von der Macht der Technik. Die Handhabung des Gorgonenhauptes bezeugt eine Urform psychologischer Kriegsführung. Perseus macht die Erfahrung mit den lebensbeeinträchtigenden Wirkungen des Schreckens, die nicht nur er systematisch einzusetzen weiß. Als Perseus nämlich den Kopf der Medusa an Athene abgibt, setzt sie ihn auf ihr Brustschild, um fortan im Kriege die Gegner in Erstarrung, Angst und Zaghaftigkeit zu versetzen. Wie Homer in der Ilias berichtet, hat Agamemnon die gleiche Strategie verfolgt und die Maske der Gorgo auf sein Schild gesetzt: "Auch die Schreckensgestalt der Gorgo blickte vom Schild drohend herab, umringt von Dämonen der Furcht und des Grauens." Was Perseus ehedem nur als flüchtiges Antlitz auf der glänzenden Oberfläche gesehen hatte, wird nun fixiert und als Bild für den Krieg instrumentalisiert.

Zum strategischen Grundbestand moderner Kriege gehört es längst, daß die kämpfenden Parteien Bilder veröffentlichen, mit denen sie Schrecken zu verbreiten suchen. Es werden Waffen in Aktion gezeigt, Zerstörungskräfte und Verwüstungen demonstriert, erniedrigte Gefangene vorgeführt. Das Grauen verwandelt sich in den Propagandaabteilungen zum kalten Zweck der Einschüchterung. Die Öffentlichkeitsmacher stellen den Gegner als schwach und verloren dar, die eigene Partei als zerstörungsmächtige Einheit. Die Wirklichkeit, die auch in Bildern zum Ausdruck zu kommen vermag, wird systematisch bedroht. Diese strategische Bedeutung von Bildmedien hat mittlerweile tragische Konsequenzen für Fotojournalisten, auf die in den letzten Jahren bei kriegerischen Auseinander-setzungen vermehrt geschossen wurde. Es gilt, Macht über das Bild behalten, es zu verwahren, um es im richtigen Augenblick dem Gegner (zu der die gesamte Weltöffentlichkeit gehört) zu präsentieren. Bilder sollen nicht aufklären, sondern beängstigen.

Perseus kehrt heim; er erzählt keine Geschichten, er zeigt belichtete Schilde.

© Gunnar Schmidt