Nomadenträume, Engelsblicke

Mit wehendem Kleid steht die Frau auf einer Aluminiumleiter und schaut über die unendliche Weite einer wüsten Landschaft. Das Kleid weht im Wind, der rechte Arm hält das Gleichgewicht. Erderhobenes Wesen. Profanes Engelsbild. Die Frau hat die angespannte Haltung einer Späherin. Wir sehen nicht, nach was sie Ausschau hält.

Der Betrachter der Betrachterin ist der englische Schriftsteller Bruce Chatwin. Er hat die deutsche Mathematikerin und Geographin Maria Reiche nicht nur auf diesem sonderbaren Foto festgehalten, er hat in einem Essay die Merkwürdigkeit der Szene auch sprachlich nachgezeichnet: "Indeed, it is rather an odd sight, the old lady perched on top of an aluminium step-ladder, apparantly gazing into nowhere ...".
Maria Reiche stellt seit vierzig Jahren auf einer Hochebne in Peru Studien über rätselhafte Zeichen und Zeichnereien an. Von der Leiter aus betrachtet sie, was Ureinwohner vor bald 2000 Jahren in die Pampa de Ingenio geätzt haben: Linien, Rechtecke, Dreiecke, Spiralen, Tier- und Pflanzenbilder. Maria Reiche ist eine Zeitreisende. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Linien auf diesem gigantischen Areal zu entschlüsseln und zu bewahren.

Das Bild der Forscherin ist eine Besonderheit im fotografischen Oeuvre Chatwins, denn kaum einmal stellt er eine Person in den Mittelpunkt seines Bildbegehrens. Gerade darum aber mag dem Foto ein zentraler Stellenwert zukommen, die Versinnbildlichung einer Identifikation darstellen.
Wie Maria Reiche ist Chatwin von der Ferne und dem Fremden fasziniert. An einem Punkt seines Lebens verläßt er die sichere Stellung als Sachverständiger des Auktionshauses Sotheby und reist fortan durch die Welt. Ein moderner Nomade, der von Land zu Land streift, auf die Weltdinge sieht, forscht, schreibt. Auf diesen Reisen trifft er immer wieder auf unverständliche Zeichen, und in seinem wohl bekanntesten Buch hat er sich auch mit mysteriösen Linien beschäftigt: The Songlines. Die Songlines sind die unsichtbaren, gesungenen, mythischen Pfade der Ureinwohner Australiens, die sich über den Kontinent erstrecken.

In seinen Texten erweist sich Chatwin als literarischer Ethnologe, Geograf und Historiker; er ist ein Er-Fahrener. In den Fotografien, die auf den Reisen entstehen, offenbart sich hingegen ein Blickmensch, der von der Erfahrung mderner Kunst geprägt zu sein scheint. Er nimmt seinen bei Sotheby geschulten Kunstsinn mit in die Fremde und betrachtet die Weltdinge wie Kompositionen. Seine Farbbilder zeigen die Sachen vor allem in ihrer Materialität und Buntheit, als Scheinwesen. Er wählt Ausschnitte, die die Objekte oft aus ihren landschaftlichen und kulturellen Kontext reißen. Als interessiere er sich nicht für den Gebrauch, den die Menschen von den Dingen machen, nimmt er nur ihre Oberfläche, ihr Leuchten wahr. Aisthesis, Wahrnehmung: Der zugereiste Fremdling sieht zunächst nichts als undechiffrierbare Zeichen.

Chatwins Fotografien imitieren in ihrer sorgfältigen Komponiertheit den ersten Blick, der hinter der ästhetischen Abstraktion die sinnhafte Gestalt noch nicht zu entdecken weiß: Die Wand einer afrikanischen Hütte aus bemaltem Holz und Blech wird zu einer  schwitterschen Materialassemblage, die gestreifte Bootspitze auf weißem Strand vor tiefblauer See und hellblauem Himmel zu einer Farbkomposition, die an den abstrakten Expessionismus eines Mark Rothko erinnert. Wie die Linien auf der Hochebne Perus, die ein religiöses, astronomisches oder mythisches Wissen zu verbergen scheinen, sehen wir auf den Bildern Chatwins wundersame, verführerische Male und Malereien, deren Sinn zu entschlüsseln noch aussteht. Diese Lust, sich von der phänomenalen Unmittelbarkeit betören zu lassen,  findet sich in seinen Notizbüchern wieder, wo er die Eindrücke in kurzen, oft grammatisch un-vollständigen Sätzen ausdrückt. Es sind sprachliche Momentaufnahmen, Analogien zum fotografischen Bild: "Blue willows beside grey waters. Quartz and green ser-pentine." "Underneath a dhurrie carpet of blue and white stripes." "Painted tops, orange blue white red yellow squares, golden spirals."

Für Chatwin ist Abstraktion ein antiautoritärer Akt. An einer Stelle seiner Essays spricht er davon, daß reine Form und Farbe die säkularen Mächte verhöhnen, denn sie streben danach, die Grenzen der Welt zu transzendieren. Nicht die Herrschaft über die Dinge ist ihr Ziel, sondern die Ahnung einer hierarchielosen, unsichtbaren Sphäre.
Diese Haltung ist gewiß diejenige des Nomaden, der weltliche Grenzen nicht anerkennt, der sich an Dinge nicht binden möchte. "Anarchic people," schreibt er "like desert nomads, hate and destroy images ..."  Der Nomade, der Reisende steht immer auf einer Schwelle, die ihn an ein Außen oder Dahinter mahnt; so übt er Gleichmut gegenüber den gegenwärtigen Sachverhalten.

Fotografie ist in ihrer Gegenstandsverhaftung vielleicht eine antinomadische Kunst. (Die touristische Fotografie ist die symbolische Bemühung, die fremden Welten mit in die Heimat zu nehmen, sie möchte einen Besitz wahren.) Chatwin hat neben den zur Abstraktion neigenden Fotografien einen Komplex von Bildmotiven gestellt, in dem die Treue zum Nomandentum gleichwohl erkennbar bleibt. Immer wieder fotografiert er Türen, Fenster, aufgebrochene Wände und Mauern, Durchblicke, zerfallende Behausungen. Er richtet seine Kamera auf die Öffnungen, die die Flucht oder den Ausgang ermöglichen, den Blick für die Ferne freigeben. Der Rahmen ist nicht Bildfixierung, sondern Durchgang. Wo die Türen geschlossen sind, dort schaut der Fotograf stets von außen auf sie. Die Bilder erwehren sich auf heitere Art möglichen Klaustrophobien und erinnern daran, daß es immer einen Grund gibt, ein Haus zu verlassen.
Die Behausung scheint für Chatwin ein Ort zu sein, an dem man sich nicht dauerhaft niederläßt, sondern von dem aus die Reise begonnen oder fortgesetzt werden kann. Das Bild der Tür bezeugt die Sehnsucht nach dem Freien. In den Notizen findet sich eine Passage, in der der Autor euphorisch das Glück beschreibt, in einem Zelt zu übernachten. Das Zelt ist für ihn die Art von Wohnung, die in ihrer Architektur die Unendlichkeit des Himmels nachahmt: "Wonderful effect of the horizon framed in the curve of the tent. Impression of heaven, of the roundness of the vault in the sky - flat land spreading out from the tent."

Der Blick geht hinaus. Die ideale Welt besteht aus Farbe und grenzenloser Weite.

Weltflucht erneuert den Sinn für Weltbetrachtung. Der Gehende verweilt, beschaut das Menschentreiben und weiß zugleich, daß er den Horizont, blau und voller Möglichkeiten, vor sich hat.

Auf einem Foto zeigt uns Chatwin ein verwittertes Fresco aus dem 19. Jahrhundert: Vor nächtlichem dunkelblauem Hintergrund schwebt ein Engel in hellblauem Gewand, Flügel und Arme weit ausgebreitet. Unter ihm ist eine Gruppe eng zusammengekauerter Hirten. Aus der Unermeßlichkeit der Dinglosigkeit kommt ein Wesen, begibt sich für einen kurzen Augenblick auf die Erde nieder, um sodann in der Grenzenlosigkeit wieder zu verschwinden.


Bruce Chatwin, Photographs and Notebooks, London 1993; What Am I Doing Here, London 1989, The Songlines, London 1988.

© Gunnar Schmidt