Himmelsbilder

In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts schauen drei Künstler, eine Schriftstellerin und zwei Fotografen, zum Himmel empor. Sie leben fern von einander: Virginia Woolf in England, Alfred Stieglitz in Amerika und Edward Weston in Mexiko. Und doch teilen sie einen Wunsch sie wollen den Blick von jeglichem Zweck befreien. Weder die religiöse Suche nach dem Göttlichen  in der Unendlichkeit des Firmaments noch die profane Beobachtung meteorologischer Ereignisse motiviert ihre Himmelsschau. Ihre Sehnsucht ist ästhetisch. Sie möchten sich von der Konkretheit der Dinge lösen, in eine Sphäre der Menschenlosigkeit vordringen mit dem Ziel, dort das Modell einer reinen Ästhetik aufzuspüren.

Alfred Stieglitz

Virginia Woolf hat diese moderne Ästhetik in Roman und Essay anzudeuten versucht: Für sie waren die Wolken Macher und Verwerfer von Gestalten; im Himmel malt goldfarbenes Licht strahlende Schäfte, und Schattenspiele experimentieren mit Blautönen. Diese Ästhetik ist deshalb rein zu nennen, weil am Himmel kein künstlerisches Subjekt agiert; alles geschieht unwillkürlich. Und so erklärt es sich, daß, obschon alles in unaufhörlicher Bewegung sich befindet, es am Himmel keine Geschichte, keine Erzählungen gibt. Ein "gigantisches Kino", wie Virginia Woolf den Himmel einmal nannte, führt das Spiel der Wandlung, der Zerrissenheit, des Dunklen und Lichten, der Mächtigkeit und Verlorenheit auf. Gewiß, diese am Himmel praktizierte Ästhetik, die in den Text kommen soll, ist eine der Weltflucht, inhuman: Ferne, Unfaßbarkeit, Abstraktion, flüchtige Expressivität, Ding- und Menschenleere sind ihre Merkmale. Die Trennung von der Welt und der blickhafte Sprung in die Höhe ist jedoch der Versuch, Ausdruck als Ausdruck zu bedeuten, die Enge des gegenständlichen Sagens und Zeigens zu verlassen. Die Schriftstellerin konstruert ein Paradox: Sie will die Grenze der Sprache überschreiten und begehrt gleichzeitig, im sagenden Zeigen des Nicht-Sprachlichen das Nicht-Sagbare auszusagen.

Dieses Paradox gilt in veränderter Gestalt auch für den Fotografen: Indem er sein Objektiv auf die Abstraktionen am Firmament richtet, will er den Kampf gegen die Sklaverei der Weltdinge aufnehmen, mit denen er existentiell verknüpft ist. Er will etwas zeigen, das nicht der Bildgegenstand ist; er will ein Bild zeigen, nicht ein Bild von etwas. Das Bild-an-sich scheint für die Fotografie nicht zu existieren, denn als analoge Bildtechnologie stößt sie stets an die Grenze des Realen; ihre Bedingung ist eine Begegnung oder Gegebenheit, der sie sich zuwendet. Der Fotograf kann nicht frei erfinden wie der Schriftsteller oder der Maler, er kann allenfalls verfremden. Roland Barthes hat diesen Sachverhalt überspitz mit dem Satz kommentiert: "Eine Fotografie ist immer unsichtbar", denn was wir sehen, ist nicht die Fotografie, sondern der fotografierte Gegenstand.

Der unmögliche Wunsch des Fotografen, sich von der Aufdringlichkeit der Welt zu lösen, brachte Alfred Stieglitz zur Wolkenfotografie.

Selbstverständlich konnte sich der Fotograf mit der Hinwendung ins Extraterrestrische nicht von der prinzipiellen Dingabhängigkeit befreien, doch schien das Ätherische, die fast dinglos zu bezeichnende Qualität des Gegenstandes die Illusionsbildung zu begünstigen, durch ihn das Bild als Bild erstellen zu können.
Der Weg zu dieser Illusion war nicht leicht. In einer kleinen Schrift macht Stieglitz die Bemerkung, daß die Wolken ihm größte Schwierigkeiten beim Fotografieren aufgaben, Schwierigkeiten, die er fast für unüberwindbar hielt. Seine Intention war es, daran hat er über Jahre gearbeitet, die Fotografie wie Fotografie aussehen zu lassen. Mit Hilfe der Wolkenfotografie wollte er zeigen, daß die Qualität der Bilder nicht vom Sujet beeinflußt waren, nicht von den Dingen in den Bildern. Wolken sind, so Stieglitz, visuelles Gemeingut und verfügen daher über die Eigenschaft des Überindividuellen, wodurch das Bild freigehalten wird von Vergleichen, Erinnerungen und Gefühlen, die wir mit den Weltdingen zu verbinden pflegen. Es galt, den subjektiven Eintrag des Betrachters auszuschalten. Stieglitz wünschte eine reine Fotografie, eine, die zu sich selbst kommen sollte, die von nichts als von sich selbst Bericht gab. Um dieses Ideal auszudrücken, hat er einen Vergleich formuliert; er wollte, daß man beim Anblick der Wolkenbilder ausriefe: Musik! Musik!

Nicht zufällig hat Stieglitz den Vergleich mit der Musik gewählt, jener Kunstform, deren Zeichensystem sich der Abbildungsfunktion weitgehend entzieht. Das Ideal der Wolkenfotografie liegt damit an einem ästhetischen Punkt, der der Kunstform Fotografie am entferntesten zu sein scheint.

Mit der Kamera nicht mehr die Welt finden, sie aufheben, sondern den Blick dort hinrichten, wo es keine Ordnung gibt, wo nicht das Vorgefaßte der Dingbedeutungen ins Bild eingeht. Die Fotografie versucht, die Position der Selbstbezüglichkeit zu erringen, in dem sie sich einen Gegenstand erwählt, an dem keine Erinnerungswerte haften. Fern vom menschlichen Geschick tritt das Farben-, Licht- und Formengeschehen in seiner Abstraktheit als reine Grundbedingung der Fotografie auf, ist diese doch  schließendlich nichts anderes als ein physikalisch-chemisches Verfahren zur Fixierung von Lichtwerten. Die Wolkenfotografie ist ein Purifizierungsakt, der vielleicht zu nichts anderem als einem formalen, inhaltsleeren Bildstück führt. Man mag darin aber ebenso die Anstrengung erkennen, eine Kunst zu erschaffen, die die Spannung zwischen Bildmaterialität und dem Dargestellten aufmacht. Eingeschlossen darin ist die Frage danach, wie der Sinn ins Bild kommt. Damit ist nicht allein ein erkenntnistheoretisches Problem formuliert. Das ästhetische Ding führt zu dem Punkt zurück, als wir in die Welt schauten und noch nicht über die Sprache verfügten, mit der wir sie uns zu eigen machen. An diesem Ort der Vorbedeutung zu verweilen heißt, die Dinge vorüberziehen zu lassen - wie Wolken - ohne Struktur, ohne Zeit, ohne gebraucht zu werden: Welt aus Licht und Schemen.

So wird der Himmel in der Kunst zum Sinnbild uranfänglicher Erlebnisunschuld: "In einem Graben an einem stürmischen Tag liegen, nachdem es geregnet hat; und dann ziehen gewaltige Wolken über den Himmel, zerrissene Wolken, Fetzen von Wolken. Was mich dann beglückt, ist das Durcheinander, die Höhe, die Gleichgültigkeit und das Ungestüm. Sich stetig wandelnde große Wolken und Bewegung; etwas Schwefelfarbiges und Sinistres, aufgeworfen, wirr; hochaufragend, dahinziehend, aufgerissen, verloren, und ich vergessen, klein, in einem Graben. Von Geschichten, von Plänen sehe ich dann keine Spur." (Virginia Woolf)

© Gunnar Schmidt