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Vom Glück
Es gibt viele, unendlich viele Bilder, die zeigen, wie das Leben
doch eigentlich sein sollte: die schöne Natur, der perfekte
Leib, der lachende Mensch, das harmonische Beisammensein, der
blaue Himmel, die aufgräumte Stadt, die gute Kleidung, die
leckere Speise. Das ist die glatte Utopie, alles ist da und ausgezeichnet.
Werbung projiziert diese Bilder unablässig auf die Netzhäute.
Sie reizt mit dem Besitz, "reißt den freien Spielraum der
Betrachtung nieder und rückt die Dinge so gefährlich
nah" (W. Benjamin). Jeder kennt diese Verführer, ist auf
sie hereingefallen und hat sie durchschaut, die so wenig bedeuten.
Sie sind nicht rätselhaft. Ich erkenne sofort ihre Botschaft.
Die Bilder sagen: "Du sollst wünschen zu sein, zu besitzen,
was ich zeige." Sie verwandeln mich in einen Eifersüchtigen
oder Neider. Ich bemerke, daß das Wünschen zur Gier
sich verengen soll. Diese Bilder wollen mich dressieren.
Seltener,
viel seltener geschieht es, daß ein Bild uns erblickt und
uns stocken läßt. Wir bemerken schon im ersten Moment,
daß wir nicht Opfer von Strategen sind, von geplanten Verführungen.
Eine Szene steht vor uns, die zu bannen vermag, weil sich hier
das Glück zeigt. Die Begegnung mit dem Bild ist ohne Absicht,
in ihr verliebt sich das Auge auf den ersten Blick.
Die Begegnung ist einmalig. Das Bild ist unteilbar. Andere Betrachter
werden in ihm nichts erkennen, befinden es gar als langweilig,
unbedeutend. Tatsächlich muß das beglückende Bild
weder perfekt noch ungewöhnlich sein. Der Wunsch benötigt
weder die Regelästhetik noch die Sensation. Wer nach dem
Glück sucht, der begegnet ihm nicht im Kalkül, der trifft
es im unerwarteten Augenblick.

Jacques Henri Lartigue: Renee Perle,
1930-32
Aber
wer das Glück im Bild findet, ist nicht nur beglückt.
Er kann es oft nicht ertragen. Denn es ist die Macht der Bilder,
daß sie vorführen, was sie nicht zu geben in der Lage
sind. Dies betrifft vor allem das fotografische Bild, das die
Realität illusionsmächtig aufruft. Es beweist, daß
woanders einmal das Glück existierte, das bei mir nicht ist.
Je wahrhaftiger das Glück im Bild gegenwärtig zu sein
scheint, umso mehr bin ich davon abgeschlossen.
Ist
mit diesem Allgemeinplatz aber hinreichend erklärt, warum
das bildgewordene Glück einen Stich zu versetzen vermag,
warum wir bei der Betrachtung einen tiefen Mangel verspüren
oder gar mit dem Blick der Verzweiflung vor einem Bild verharren?
Ich glaube, einzelne Bilder haben die Kraft, etwas im Betrachter
aufleben zu lassen, das mit Neid oder Eifersucht, mit benennbarem
Mangel nicht angemessen erfaßt ist. Es steht mehr auf dem
Spiel.
In
der Psychoanalyse Jacques Lacans wird diese Evokation des unbestimmten
Affekts mit dem aristotelischen Begriff invidia gefaßt.
Damit ist gemeint: Das, was ich sehe und meinen Neid erwecken
könnte, ist nicht eigentlich das, was ich begehre. Was ich
sehe, ist viel mehr eine Szene, die die Perfektion oder die ultimative
Befriedigung symbolisiert. Das Bild ist eine Art Überlagerung.
Dies schließt einen Riß ein, der zwischen visueller
und Selbstwahrnehmung verläuft: Ich glaube, den erfüllten
Wunsch zu sehen, von dem ich nicht weiß, was der Wunsch
bei mir ist. Das ist paradox: Ich sehe etwas, von dem ich keine
Kenntnis habe. Ich bin mit meinem Unbewußten konfrontiert:
Das Eigentliche entzieht sich dem Sehen. in-videre, das
verneinte Sehen. Das Bild fungiert als Stellvertreter für
das Unerkannte, das sich aufdrängt und beunruhigt. (Die innere
Bewegtheit korrespondiert widersinnig mit äußerer Erstarrung.)
Dem geglückten Bild ist ein Rätsel mitgegeben, das dem
Betrachter zur Lösung aufgegeben ist. Darum bindet es mehr
als die bewerbenden Bildverführer, die uns zu kennen glauben
und darin nur ihre eigene Flachheit offenbaren.
Dem
anderen Bild, Bild des Glücks, entgeht das Moment der Formulierung.
In diesem Bild ist die Utopie im Wortsinn anwesend: Nicht-Ort
der Wunscherfüllung. Wir schauen auf die Schatten abgewendeten
Glücks.
© Gunnar Schmidt
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