Flüchtige Abbilder

Bereits wenige Jahre nach Daguerres Erfindung der Fotografie würdigt Honoré de Balzac das neue Medium mit einer (gespenster)theoretischen Bemerkung. In seinem Roman Vetter Pons schreibt er: "Wenn jemand zu Napoleon gekommen wäre und ihm gesagt hätte, daß ein Gebäude und ein Mensch jederzeit und unaufhörlich ein Bild in die Luft werfen, daß alle existierenden Gegenstände auf diese Weise als ungreifbares Gespenst sich wiederholen, würde er diesen Mann in Charenton eingesperrt haben ... .  Und doch hat Daguerre genau das durch seine Entdeckung bewiesen."
Für Balzac ist die Fotografie eine Brems- oder Einfangvorrichtung; sie bildet eine Sache nicht eigentlich ab, sondern bringt ein bereits vorhandenes Abbild - das Gespenst - zur Ansicht: Die Körper strahlen in den Raum "das flüchtige Abbild, das durch die lichtempfindliche Platte gezwungen wird, zu verweilen ..."

Die Vorstellung von den unsichtbaren und beweglichen Abbildern geht auf eine antike Vorstellung Demokrits zurück, wonach die Körper beständig feine Häutchen absondern, die auf den Augen einen Abdruck hinterlassen und so den Seheindruck bewirken. Daß ein realistischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts diesen anachronistischen Gedanken als glaubwürdig behandelt, könnte eine Kritik als Ausdruck vorwissenschaftlicher Einbildungskraft abtun. Vielleicht jedoch ist in solcher Ungleichzeitigkeit des Denkens ein "dialektischer Haken" (E. Bloch), der Wirkliches ins Helle zieht: Balzacs mythisch-philosophische Aussage ist verstehbar als Reaktion und Verarbeitungsform einer Welt, in der Wandelbarkeit, Geschwindigkeit, Destruktion/Produktion die gesellschaftliche Existenz bestimmen.


Mario Bellusi: Modern Traffic in Ancient Rome, 1930

Balzac ist Gegenwartsanalytiker, er schärft den Fokus für Modernisierungsprozesse. In Vetter Pons stellt er die Fotografie in eine Reihe mit verschiedenen Erfindungen, die für ihn Fortschrittsmarkierungen darstellen: die Nutzbarmachung des Dampfes, die Luftschiffahrt, den Buchdruck, das Pulver, die Brille, den Kupferstich. All diese Erfindungen zeichnen sich dadurch aus, daß die Fotografie eine untergründige Beziehung zu ihnen unterhält. Die Attribute, die diesen Erfindungen assoziiert sind, gelten allesamt auch für die Fotografie: Klarsicht, Übersicht, Reproduzierbarkeit, Bildhaftigkeit, Schnelligkeit.
Besonders das Moment der Raschheit, das Balzac mit dem Wort vom "flüchtigen Abbild" benennt, trägt im 19. Jahrhundert, Machinenzeitalter, zu einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen bei.

Verkehrstreiben: Die Eisenbahn macht die Gesellschaftsentwicklung und den Menschen zu einer geschwinden Sache. Sie verursacht Euphorie und Angst bei den Zeitgenossen; in der raschen Bewegung vergehen die Dinge und die Sinne. Für den Zurückbleibenden ist der Vorbeifahrende nichts als ein kurzer, verschommener Eindruck, ein Schemen. Für den Fahrenden ist die Nahwelt ein bunter Farbstrom. Überall "flüchtige Abbilder". 1837 beschreibt Victor Hugo eine Eisenbahnfahrt so: "Die Blumen am Feldrain sind keine mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote und weiße Streifen; es gibt keinen Punkt mehr, alles wird Streifen; ... die Kirchtürme und die Bäume führen einen Tanz auf und vermischen sich auf eine verrückte Weise mit dem Horizont; ab und zu taucht ein Schatten, eine Figur, ein Gespenst an der Tür auf und verschwindet wie der Blitz, das ist der Zugschaffner." Und Hans Christian Andersen: "Jetzt habe ich eine Vorstellung davon, daß sich die Erde dreht, in meiner Nähe bewegten sich Gras und Acker wie das wirbelnde Spinnrad, nur die entferntesten Gegenstände schienen ihre gewohnte Ruhe zu bewahren. Jetzt kann ich mir den Flug der Zugvögel vorstellen, auf solche Art müssen sie die Städte hinter sich lassen."

Ähnliche Erlebnisse der Flüchtigkeit und des Umweltrauschens vermag die Großstadt mit ihren Menschen- und Warenströmen, mit dem Verkehr  zu vermitteln. "Straßengewühl ... aneinander vorbeischießende Strömungen des Gedränges" (Friedrich Engels) verweigern Innehalten, Kontemplation. Die Großstadt ist eine Maschinerie, die die Geschwindigkeit, den Schwindel und das Schwinden kultiviert. Was eben noch da war, ist im nächsten Augenblick nur noch ein verblaßter Erinnerungseindruck, ein Hauch, eine Aura, eine Unschärfe oder ein Schatten.

Auch wenn Balzac mit seinem Rekurs auf die antike Theorie der fliehenden Häute die wissenschaftlichen Wahrheiten der Optik, Chemie und Wahrnehmungs-physiologie verfehlt, so gewinnt das Demokritsche Mythem vor dem Hintergrund gesellschaftlich-industriellen Wandels doch eine unerwartete Sinndimension. Es läßt sich verstehen als Ausdruck einer Sensibilität, die die modernen zivilisatorischen Gegebenheiten und lebensweltlichen Wahrnehmungsrealitäten registriert. Balzac bezeugt eine Aufmerksamkeit für die Dimension der Vergänglichkeit, für das Vergehen der Dinge durch permanente Erneuerung und Verflüchtigung. Dabei gerät vor allem der Aspekt der Visualität in den Blick, ein Aspekt, der die kommunikativen Qualitäten des Haptischen und Sprachlichen zu verdrängen droht. Entkörperlichung. Balzac gelingt es, die zunehmende visuelle Vergänglichkeit und das Auftauchen der fotografischen Bildmächtigkeit in einen Zusammenhang zu stellen.

Mit dem mythischen Rückgriff gibt Balzac einen Hinweis auf die Funktion und historische Bedingtheit der Fotografie. Der Schriftsteller charakterisiert sie implizit als Zeitmaschine, die auf die Beschleunigung der Weltbilder mit technisch erzeugter Aufnahmegeschwindigkeit reagiert. Noch nie konnte vorher mit solcher Mühelosigkeit ein Bild hergestellt werden, das den Anforderungen der Genauigkeit genügte. Gleichzeitig stellt die Fotoapparatur mit ihrer technischen Anpassung an das Imperativ der Raschheit einen Widerstand her: Sie konserviert den Moment, den verlorenen Augenblick. Die Arbeit der Fotografie ist die Stillegung oder, wie Balzac sagt, das Verweilen. In dem historischen Augenblick, wo die Welt zu rasen beginnt, wird ein Bildmedium erfunden, das die Dinge zu fixieren vermag. Wo das Auge Streifen wahr-nimmt, dort findet die Fotografie den Punkt und die Ruhe. Sie schafft Muße, Betrachtungsgeduld, die die Realität mehr und mehr versagt. Sie ist ein Schatten- oder Gespensterfänger.

Wenn Balzac die Metapher des Gespenstes benutzt, so erfaßt er damit das Zurückgebliebene, das Vergangene, das als Spur in der Gegenwart verbleibt. Implizit spricht die Metapher aber auch von der Totenruhe. Der amerikanische Autor Oliver Wendell Homes hat in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Balzacs Andeutung ausgeführt und den Zusammenhang zwischen fotografischer Oberfläch-lichkeit und Vergänglichkeit der Dinge dargelegt. Er bezieht sich dabei in bewußter Anspielung ebenfalls auf Demokrits Häutchentheorie: "Jeder denkbare natürliche und künstliche Gegenstand wird in bälde seine Oberfläche für uns ab-schälen. Die Menschen werden auf alle merkwürdigen, schönen und großartigen Gegenstände Jagd machen, so wie man in Südamerika die Rinder jagt, um ihre Haut zu ge-winnen, und den Kadaver als wertlosen Rest liegen läßt."

Verschwundene Welt* : Die Vergänglichkeit hat ihre einsprechende Instanz in den Aufzeichnungsmedien, die das Heil gleichwohl nicht zu bringen vermögen. Sie müssen nur eine Leistung erbringen, sich je dem Tempo des Erlöschens anpassen, um wenigstens die Haut zu retten: Das Vergehen einer Landschaft, eines vorbeirasenden Autos, einer Lebensform aufnehmen.


* Titel eines Fotobandes von Roman Vishniac, der die Welt des jüdischen Schtetl vor der nazistischen Vernichtung dokumentiert.

© Gunnar Schmidt