Familienroman – Familienpoesie

Das Fotografieren ist Vätersache: Liebe zur Technik, wortlose Blicke, Sachverwaltung. Väter schauen vom Rand auf die Szene. Die Mütter sind  Hüterinnen der Bedeutung: Ordnen der Bilder, Bücher basteln, beschriften. Mütter sind Archivare, Sinnbeschaffer.
Und das Kind? Ihm wird Erinnerung gemacht. Das Kind wächst heran, man wird Geschichten von ihm  erzählen. Manchmal mit einem Blick auf die Fotografien werden  Situationen erweckt und Assoziationen gesponnen. Man sagt, "Schau, das bist Du, als Du noch nicht wußtest, wer Du bist!" Wird das Kind beim Betrachten seines Albums Vaterblick und Muttersprache nachahmen, sich sehen, wie einmal der Vater das Kind sah, und die Sätze so verstehen, wie die Mutter sie einmal ihm zuschrieb? Was einmal war, kommt nicht als das Eigene zurück, es ist das Sehen und Fühlen und Sprechen der Anderen - der Beherrscher der Apparate, der Kulturmächtigen, der Mythenmacher. Aus Momenten der Geschichte bilden sie die Geschichten, Motive, Überzeugungen. Sie selektieren, sie wünschen, sie vergessen - sie sind Konstrukteure des Lebens des Kindes. Und das Kind hört und sieht und nimmt die Worte und die Bilder auf sich, um sie alsbald nachzusprechen, nachzuleben. Es hat seine Geschichte empfangen, ohne sie erlebt zu haben. So wird Ich gemacht.

Walter Benjamin

Ein Kind wird geboren. Es ist krank, es will nicht essen. Die Eltern sorgen sich, besuchen Ärzte. Sie mühen sich, sind bekümmert. Aber das Kind wächst und wird gesund. Die Zeit wird in der Erinnerung bleiben als eine, in der es das traurige Kind genannt wurde.

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Ein Kind soll fröhlich sein. Man sagt, die Kindheit sei die glücklichste Zeit im Leben eines Menschen. Das ist die romantische Behauptung unserer Kultur.
Nie mochte er deshalb Kinderfotografien von sich betrachten, weil er doch ein trauriges Kind gewesen war. Falsche Bilder einer Kindheit oder Bilder einer falschen Kindheit? Gleichzeitig erschienen ihm späterhin all die fotografischen Aufnahmen als besonders gelungen und wahrhaftig, die ihn mit einem ernsten Gesichtsausdruck zeigten: Symbol sublimierter Traurigkeit. Ein geglücktes Foto war ihm  offenbar jenes (ohne, daß er es ahnte), das die Melancholie der Kindheit (des Kindes, der Eltern?) noch einmal zum Aufscheinen brachte. Er, der Körper nahm die Geschichte an, er  inszenierte vor der Kamera eine Vergangenheit, die in Erzählungen zu ihm gekommen war; er erschuf ein Körperbild, das den Mythos des traurigen Kindes wiederholte. (Eine frühe Begebenheit: Als Elfjähriger sitzt er im Studio eines Fotografen, der sich vergebens bemüht, das Kind zu einem Lächeln zu bewegen.)


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Zeitsprung. All die Bilder der Kindheit waren vergessen, abgelegt in einem Buch, vergraben in der Lade eines großen Schrankes. Das abgegriffene Album wurde nicht zur Hand genommen. Erst nach Jahren und Jahren rufen sich einzelne Bilder zurück, und wieder sind es die Allegorien der Melancholie, die zu ihm kommen. Nicht die Begebenheit, der historische Moment, der Kontext, aus dem die Fotografie entstand, gelangen ihm zur Erinnerung, nicht das Foto als Stütze, Provokateur vergangenen Erlebens. Das Bild ist Monade, in dem ein Imaginäres eingeschweißt ist, eine Festlegung. Das erinnerte Bild ist nicht Repräsentant einer Vergangenheit (von ihr weiß er nichts mehr), es enthält nichts Erzählbares, ist Spiegel einer Befindlichkeit - Zeit enthoben.
Mit dieser imaginierten Fotografie im Sinn sucht er nach seinem  Kinderalbum und findet schließlich dieses und jenes Bild. Die Erinnerung hatte nicht getäuscht, das ernste Kind hatte existiert, die Beweise lagen vor ihm. Und doch: Beim Durchblättern des Albums stellt er fest, daß er auf vielen Fotografien durchaus fröhlich in die Welt schaut. Riß in der Wahrnehmung: Früher hatte er nur das mißglückte Kind gesehen, jetzt sah er das normale Kind, eines, das lacht, beschäftigt ist, für den Fotografen
aufgestellt ist. Was war dieser Mythos vom ernst-melancholischen Kind? Eine Täuschung, eine gehütete Konstruktion, ein Ausschnitt, der zur Universalie gewor-den war? Ihn beschleicht der Verdacht, daß das Album eine Beschwörung darstellt, durch die die traurige Erfahrung mit einem sorgenvollen und sorgenmachenden Kind verbannt werden sollte. Die Konvention des Bildes macht aus dem Alltag eine Ansammlung  glücklicher Momente: Weihnachten, Spiele, Geburtstag, Geschenke.
Frage der Wahrheit: Welche Erinnerung lügt?

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Er trifft eine Unterscheidung, zwei Arten der Bilder findet er in seinem Album: Erinnerungsfotografie und Ich-Fotografie (seine erinnerten Bilder). Die Erinnerungsbilder führen zurück zu einer Szene, zu Begebenheiten. Bei ihrer Betrachtung entstehen Berichte, Kommentare, Erzählungen; Dramen, Abläufe werden wachgerufen. Ich-Fotos zeigen Selbstbilder. Sie kommen ihm wie Standfotos aus einem Film vor, denen der Zusammenhang abhanden gekommen ist. In ihnen ist er fixiertes Ich, Gestalt, Figur. Kein Akteur, keine Geschichte. Diesen Bildern ist der Sinn von jenseits zugebracht worden, aus Kontexten, die der fotografischen Szene nicht zugehörten. Das Ich-Foto ist Metapher, Allegorie, individueller Archetyp - es ist nicht erzählbar. In ihnen kommt nichts als eine stilisierte Identität, ein Klischee  zur Ansicht: das traurige Kind.
Beide Bildsorten haben Gedächtnisse mit unterschiedlichen Strukturen und Inhalten. Das Erinnerungsfoto unterliegt der Strategie der Konstruktion: Ihm wird der Vergangenheitsbericht mit seinen Stilfiguren beigegeben (z.B. Sentimentalisierung, Heroisierung, Humor), mit seinen Ausblendungen, Überhöhungen, Marginalisierungen. Es ist Roman.

Das Ich-Foto hingegen bringt Unbewußtes in die Ahnungszone. Es enthält die verknoteten, verdichteten, nicht entsorgten Zuschreibungen, die in ihm  sedimentiert sind. In ihm erblickt er sich als ein bereits Gewordenes, das von dem Werden abgeschnitten ist. Es ist Poesie. Oder Symptom, narzißtische Spiegelung. Es scheint eine Versicherung zu enthalten, die - paradoxerweise - nicht begründbar ist. "Das bin ich, wahrhaftig", sagt der Betrachter und weiß doch nicht zu sagen, woher er seine Sicherheit bezieht. Das Erinnerungsbild gibt sich dagegen spielerisch, teilt eine Rolle in einer Episode zu; es fordert Zeit, Anfang und Ende. In seiner Interpretation werden die ansichtigen Begebenheiten qualifiziert: Etwas war schön, beeindruckend, gefährlich, aufregend usw. Das narzißtische Selbstbild kennt solche Qualifizierungen nicht. Der Körper, der Ausdruck, die Haltung - alles ist Sinnbild eines Seins ohne Vorher und Nachher, ohne Wandelbarkeit.


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Wir können nicht sagen, ob wir die Bilder machen oder ob die Bilder uns machen. Das Gedächtnis der Bilder (Väterblicke?) und das Ich-Gedächtnis (Muttersprache?) - sie tauschen sich aus, vermischen sich, wechseln die Positionen. Und von irgendwoher kommt eine Rede, die in uns widerhallt, der wir Glauben schenken wollen. Einigungsmacht: Sie will uns bedeuten, was wir seit jeher waren. Doch noch einmal  schauen wir auf die Bildersammlung und sehen nicht den Einen. Glaubenszweifel stellt sich zu uns, denn wir sehen: Bild an Bild an Bild... Multipliziertes, fremdes Ich.
Die Fotografie wird kritisch, wenn die Sicht aufs frühe Selbstbild in der Reihe der sich wandelnden Gestalt sich befremdet: Das war ich, das war ich, das war ich - aber ich erinnere mich nicht. Und so beginnen wir erneut zu fragen, was wir sind. Meditation über die eigene Fotografie ist Verlust und Reflexion der Identität.


© Gunnar Schmidt