Enzyklopädie

Der Wissenschaftshistoriker Michel Serres hat darauf hingewiesen, daß die großen Kaufhäuser und die neuen Enzyklopädien zur selben Zeit entstanden sind. Der historische Zusammenhang ist mehr als koinzident, er spielt auf eine Analogie an: Kaufhaus und Enzyklopädie versammeln die Dinge in ihrem Inneren, sind Orte, wo sie uns zur Benutzung dargelegt werden, wo der Überfluß herrscht, und wo sie einer Ordnung zugeführt werden. Die Nutzbarkeit mag ihre erste Funktion sein, doch sind diese Orte der gesammelten Dinge auch müßiger Lustbarkeit zugänglich. Sind wir nicht alle schon einmal in ihnen ziellos umhergewandert, haben in ihnen geblättert und dabei den Blick absichtslos über die Sachen streifen lassen, um uns an der Buntheit, der Skurrilität, an dem erstaunlichen und banalen Erfindungsreichtum, von dem die Sachen künden, erfreut? Gewiß, hin und wieder kaufen wir etwas oder fragen ein Wissen nach, ergreifen etwas von dem Angebotenen, aber dann sind wir wieder in diese naive Welt der Oberflächlichkeit zurückversetzt, wo wir nur darüber zu staunen vermögen, was es alles gibt. Kaufhaus und Enzyklopädie sind in gewissem Sinne Kindheitsorte, denn hier lernen wir die Dinge als Dinge kennen, hier werden sie nicht benutzt, haben sie noch keinen Sinn, keinen gemäßen Kontext, keine Komplexität, hier liegen sie vor uns in einfacher Selbstheit, als Bild und dazugehörigem Wort. Ich denke an jene Bildtafeln in den Enzyklopädien, die schon das Kind betrachtet noch ehe es zu lesen in der Lage ist. Es blättert Seite um Seite, um auf eine dieser Tafeln zu stoßen, wo die Dinge als Gattungswesen erscheinen: Hunde, Flugzeuge, fremde Völker, Pilze, Trachten, Naturwunder etc. An diesen Bildstellen gleicht die Enzyklopädie dem Bilderbuch des Kindes. Die Welt wird uns bezeichnet als unendliche Menge unterschiedlicher Teile, als immer reicher werdendes Universum, von dem wir nicht glauben, daß wir es je vollständig begreifen werden. Neues und Unbekanntes folgt in unendlicher Folge aufeinander. Das Kind fragt nicht nach Ordnungen, es will nur schauen.

Die Bildtafel ist ein Kreuzpunkt, wo sich ein Wissen öffnet und wo das Wissen gleichzeitig im angrenzenden Chaos unterzugehen droht. Zunächst bestechen die Bildtafel durch ihre einfache Struktur. Die Dinge liegen in der Auslage, nebeneinander aufgereiht, und trotz ihres Formenreichtums bekunden sie Gattungszusammengehörigkeit. Die Funktion der Fotografie besteht nicht zuletzt darin, auf augenfällige Weise diesen Zusammenhang zu stiften. Sie tut dies, in dem sie eine Anmutung von Dingschlichtheit erzeugt: Das Foto will nichts als die Sache zeigen, beiwerklos, als Aufstellung; die Gegenstände werden gleichsam in ihrer Nacktheit vorgeführt. Die Fotografie ist Dienerin eines klassifizierenden Blicks, seelenlos, der im Garten der gesellschaftlichen und natürlichen Natur Einheiten erzeugt. Das Ding an sich: In kindhafter Gemütsverfassung sprechen wir die Botschaft der Tafeln nach: Hunde, Flugzeuge, Pilze. Mit jeder neuen Tafel ersteht ein Moment des Kennenlernens, eine heile Welt der Worte und Dinge, einfacher Korrespondenzen. Das Wissen kommt derart in extrem veräußerlichter Form zu uns, d.h. als klassifikatorische Ordnung und nicht als lebendiger Zusammenhang. Das blickhafte Erkunden einer vielfältigen und doch auf jeder Tafel als kohärent erscheinenden Welt vermag wohl Lust deshalb zu erzeugen, weil die Dinge als beherrschbar sich zeigen, als begrenzt. Das Verschiedene weist noch die Merkmale des Gleichen auf, wodurch das Verwirrende der Weltvielfalt gebannt erscheint. Die Bilderreihen stehen nicht so sehr im Dienste eines Realismus’, viel eher bilden sie freundliche Systeme einer visuell-imaginären Überschaubarkeit. Die Bilderhaufen zeigen ein Wissenskonzept, in dem es nicht zuerst um die Erkenntnis des Individuellen und der Vielfältigkeit geht. Ihr Sinn scheint eher darin zu bestehen, die Mitteilung zu machen "Es gibt Verschiedenheit!”

In solcher naiven Übersichtlichkeit herrscht jedoch - als eine Art Unbewußtes des Systems - das Grenzenlose und die Unordnung. Treten wir über ins Erwachsenensein und lassen uns nicht länger betören von den Bildzellen: Uns wird uneinsehbar, warum gerade diese bestimmten Dinge als Gattungsdemonstratoren erwählt wurden und nicht vielmehr ganz andere. Zwar befinden wir uns im Kaufhaus des Wissens, wo die Waren in den Abteilungen für den Konsum bereitliegen, aber wir müssen die Erfahrung machen, daß es Lücken gibt, daß Dinge fehlen, die wir uns wünschten. Auch bemerken wir, daß die Abteilungen nach einer gewissen Willkür gebildet wurden: Wir finden die Abteilung für Trachten, Vögel, Entdecker und Vulkane, nicht aber für Küchengeräte, Grassorten oder Hautkrankheiten. Das Bild- und Wissenssystem ist gezeichnet  von Schnitten, von Zerstückelung. Das System kohärenter Formen im Inneren der Bildtafel steht im Gegensatz zur systemischen Unvollständigkeit und zur Inkohärenz der Gesamtheit der Tafeln. Ein Patchwork, eine Montage aus Einzelteilen, die in einem chaotischen Verhältnis zueinander stehen, liegt buchgeworden vor uns. Die Bildwelt der Enzyklopädie besteht trotz scheinbarer Ordnungshaftigkeit aus einer Ansammlung atomarer Elemente, nebeneinandergestellter Kleinsysteme. Die Registratur des Wirklichen, für die die Fotografie seit ihrer Erfindung auftritt und für die sie in der Enzyklopädie dienstbar gemacht wird, verkehrt sich mit einem Schlag ins Gegenteil: Das Wirkliche verschwindet hinter der ästhetischen Eigensinnigkeit der Bildmontagen. Das Prinzip ihrer Organisation, die formale Struktur einer bestimmten Art visuell verfaßten Wissens bestimmt den Vordergrund. Das form-sinnliche Element der Montage nimmt den Betrachter gefangen und führt ihn fort vom Wirklichkeitsantrag.

Das auf Abwesenheit organischer Verfaßtheit beruhende Prinzip ruft Vergleiche mit den Verfahren surrealistischer Kombinatorik hervor. Man ist erinnert an jenen berühmten Satz Lautréamonts, den die Surrealisten als Inbegriff ihrer ästhetisierenden Weltschau verstanden haben: "Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch.” Das Unzusammenhängende, das Zufällige, die Nutzabwesenheit, die formale Schönheit der Oberfläche, dies alles mag auch zur Charakterisierung der enzyklopädischen Bilder dienen. Die Unordnung, die poetische Irrung ist Teil der Wissensordnung; das Ästhetische verunsichert das Kognitive. Man bemerkt: Mit einem kleinen Perspektivwechsel erscheint der kindhafte Bilddiskurs der Enzyklopädie unversehens als philosophische Reflexion darüber, was die Bedingungen des Wissens sind. Die Vielheit der bildgewordenen Dinge begründet eine unsichere Position, da sie eingeklammert sind zwischen rigoroser Gattungssystematik und aleatorischer Kombinatorik, zwischen warenhafter Nützlichkeit und scheinhaftem Schau-Spiel, zwischen empirischer Positivität und Formalisierung. Das Kaufhaus, das Museum, die Enzyklopädie konzentrieren die Welt - ohne sie jedoch abzubilden. Sie nehmen die Dinge und bauen eine neue - eine symbolhafte? - Kunstwelt. Man möchte fragen, ob es in dieser künstlichen Sphäre des Wissens überhaupt noch eine Referenz auf die Wirklichkeit gibt. Bilderwirklichkeit?
Stets werden wir die Frage unbeantwortet finden, ob die Bilder nach der Wirklichkeit gemacht sind oder die Wirklichkeit nach den Bildern. Vielleicht bewegen wir uns von einer Wirklichkeitsabteilung zu nächsten, von Eintrag zu Eintrag und bilden dabei unsere willkürlichen Systeme - wie in der Enzyklopädie, wie im Kaufhaus.

© Gunnar Schmidt