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Elefantenmann
An einem Tag im Jahre 1884 betritt der Arzt und Anatomielehrer
Frederick Treves einen Laden in der Londoner Whitechapel Road.
Er hatte ein Plakat in der Auslage gesehen, das zu einer besonderen
Darbietung einlud. Es zeigte das Bild eines Wesens, das halb Mensch
und halb Elephant sein sollte. Ankündigungen dieser Art,
die Hybriden aus Mensch und Tier versprachen, waren in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts keine zu große Seltenheit:
Panoptiken, Kuriositätenläden und Jahrmärkte zeigten
den Zuschauern Freaks, Monster, Wundergeburten, die Stoff für
Phantasien waren in einer Zeit, als Darwins Theorien über
die Abstammung des Menschen populär wurden. Auch Treves wird
von einer Mischung aus medizinischem Interesse und Sensationsgier
motiviert gewesen sein, das Schauspiel zu betrachten. Zumal dieser
Fall etwas Besonderes zu versprechen schien, denn die etwas
krude Darstellung zeigte geradezu einen Exzess der Häßlichkeit.
In seinen Memoiren wird er Jahrzehnte später schreiben, wie
ab-stoßend der Anblick der Kreatur auf dem Plakat war, das
Spuren des Menschlichen zeigte, aber von solchen Deformationen
gezeichnet war, daß die Vision des Tierhaften sich aufdrängen
mußte - ein Alptraum.
Treves handelt mit dem Schausteller eine private Vorführung
aus und bekommt jenen Joseph Merrick zu sehen, der der Elephantenmann
genannt wird.
Joseph
Merrick
Merrick
litt unter einer genetischen Störung, die nicht nur enorme
Veränderungen der Haut erzeugte, sondern auch die Knochen
auftrieb. Auf diese Art waren Kopf, Arme und Beine überdimensional
vergrößert, lediglich die rechte Hand war von der Krankheit
nicht affiziert worden.
Da Treves Wissenschaftler ist, verabredet er mit dem Schausteller,
daß Merrick ins London Hospital gebracht wird, um dort genauer
untersucht zu werden. Merrick ist ganz und gar ein Objekt der
Anschauung, im Kuriositätenladen und in der Klinik. Im Hospital
wird er vermessen, Beobachtungen werden aufgezeichnet, er wird
den Mitgliedern der Pathological Society vorgeführt.
Und er wird in der Klinik zum ersten Mal fotografiert. Diese Bilder
werden wenig später in der medizinischen Literatur als Stiche
veröffentlicht: eine nackte, häßliche Kreatur,
die Erstaunen erregt.
Medizinisch ist Merrick ein Rätsel, hatte man doch noch nicht
genügend Wissen zur Klassifikation der Krankheitssymptome
bereit. Er ist namenlos, nichts als ein Sichtbarkeitsfaktum. Da
Merrick aufgrund seiner Enstellungen Schwierigkeiten hat, sich
sprachlich zu artikulieren - er bringt nur undeutliche Laute hervor
-, und über kein Mienenspiel verfügt, glaubt sein Arzt,
daß er es mit einem Schwachsinnigen zu tun hat. Ein scheinbar
archaisches Körperbild bewirkt eine Wesenssicht, die lediglich
ein reduziertes Humanum sich vorzustellen vermag. Und so ist die
Verdinglichung Merricks in der Fotografie nicht mehr als das Dokument
einer ärztlichen Haltung, die ihr Wissen an der Vorfindlichkeit
einer Anatomie orientiert.
Nach diesem kurzen Klinikaufenthalt wird Merrick für zwei
Jahre als Schaustück umherreisen und im Jahre 1886 wieder
in London eintreffen. Er ist ohne Geld, ohne Sprache, allein,
ein Vermummter, der sich die Blicke vom Leibe zu halten
sucht. Die Polizei greift den Hilflosen in einem Bahnhof auf und
findet bei ihm die Visitenkarte des Arztes Frederick Treves. Man
bringt ihn ins London Hospital, wo er auch aufgenommen wird. Gleich
nach der Einlieferung werden wieder Fotografien angefertigt. Vollständig
nackt, nicht einmal, wie in den ersten Aufnahmen, mit einem Schurz
bekleidet, steht er vor der Kamera und wird in Vorder-,
Rück- und Seitenansicht abgelichtet. Er wird visuell archiviert.
Gleichzeitig wird ihm eine Kammer zugewiesen, wo er abgeschirmt
von neugierigen Gaffern und entsetztem Personal leben kann.
Erst
jetzt beginnt Treves, sich näher mit Merrick zu befassen.
Bei täglichen Besuchen lernt er, die Laute aus dem Munde
Merricks als Sprache zu verstehen und begreift mehr und mehr,
daß er es nicht mit einer Monströsität zu tun
hat. Der ärztliche Blick ist nicht länger das einzige
Medium der Annäherung; die Kommunikation bewirkt einen Aufschluß
der Person, ihre Offenbarung als humanes Wesen.
Die ersten Bilder zeigen noch jenes Elementarwesen ("an elemental
being"), das mit seinem anamorphotischen Körperbild
eine Perversion des Humanen für den Arzt bedeutete. Die Fotografie
des nackten Merrick ist nicht nur das analoge Abbild wahrhaftiger
Tatsachen, sie ist der Stellrahmen für einen spezifischen
ärztlichen Blick. Die medizinische Fotografie forciert lediglich
den Blick, wie er im Kuriositätenladen ein-gefordert wurde:
Dort mußte Merrick sich ebenfalls entblößen und
konnte so als distanziertes Schreckwunder rezipiert werden.
Die Fotografie hat mit der Bühne die Distanzierungs- und
Rahmungstechnik gemeinsam, durch die die Gestalt ein Realphantasma
wird: ein Bild, ein Spekulationsobjekt, ein inszenierter Traum.
Dieser derart zu-gerichtete Leib kann ohne Widerspruch als Krankheit
oder als Tier, als Schwachsinn oder als Perversion, als Wunder,
als Primitivität oder als Einsamkeitsallegorie wahrgenommen
werden.
Im Laufe der sprachlichen Kenntnisnahme wird das Individuum jedoch
eingekleidet durch eine Wahrnehmung, die die sozialen Ähnlichkeiten
registriert. Allmählich weitet sich der enge Blick, der nun
mehr als das Leibhäßliche sieht; es entwickelt sich
ein Mensch, der - so Treves in seiner Autobiographie - Intelligenz,
romantische Einbildungskraft und Sensibilität zeigt. Die
wilde Nacktheit verschwindet hinter sozial normierten Vorstellungen
des Menschlichen. Es findet ein Einkleidungsprozeß statt,
der mehr als eine Metapher für einen sozialen Akt ist,
er wird als konkretes Ereignis auch iko-nographisch dingfest gemacht:
Auf einer späteren Aufnahme, die im London Hospital angefertigt
wurde, sehen wir Merrick auf einem Stuhl sitzen. Er ist nun mit
einem Sonntagsanzug bekleidet, eine Uhrkette prankt auf der Weste
und ein Ring schmückt den Finger der nicht-entstellten Hand.
Sicherlich, immer noch ist die Häßlichkeit nicht zu
übersehen, doch ist sie hier Teil einer - paradox gesprochen
- demonstrativen Unauffälligkeit.
Anders als in den früheren Fotografien, wo das Monster als
obszönes Faktum erscheint, wird in dieser Aufnahme eine Korrespondenz
erzeugt. Das Foto ist ganz im Stil der zeitgenössischen Atelierfotografie
angefertigt, die mit ihren stereotypen Mustern das Bild des Bürger
entscheidend mitprägte. Mit diesem ikonographischen Zugriff,
der gesellschaftliche Normalitätssymbole verteilt, wird Merrick
einsozialisiert und humanisiert. Welchem Verwendungszweck
dieses Bild dienen sollte, darüber können nur Vermutungen
angestellt werden. Zweifelsohne ist es jedoch der Versuch, eine
Sprache aufscheinen zu lassen, ein soziales Band ans Bild zu heften.
Die Bilder des nackten Joseph Merrick, über die zwar geschrieben
wurde, zu denen aber keine medizinischen Namen oder Erklärungen
paßten, zeigen einen wahnsinnigen Körper, einen
Körper ohne Sinn. Das späte Bild ist wie die Wendung
in einer Novelle: Der Schrecken der Häßlichkeit wird
gebannt in einem Tableau, in dem die Akteure ein-an-der wiedererkennen.
Das Kleid ist ein Erinnerungsmal, das einen chaotischen Leib verdeckt
und die Zugehörigkeit Merricks zur Gattung Mensch zurückruft.
1888
entsteht ein letztes Foto. Merrick ist 25 Jahre alt und wird noch
zwei Jahre zu leben haben. Wieder steht er vollkommen entkleidet
in einer Staffage, der entstellte Arm ruht auf einer Stuhllehne.
Die Krankheit ist weiter fortgeschritten, die wuchernden Körperzellen
quellen aus dem Leib. Doch mögen wir diesen Körper,
der wieder ganz dem anatomischen Blick überantwortet zu sein
scheint, jetzt verstehen als einen, der um seine Würde weiß:
Merrick steht abgewandt zur Kamera. Zwar bietet er die monströsesten
Teile seines Körpers dem Blick dar, aber die Nacktheit des
Geschlechts und des Gesichts ist unsichtbar. Die Erziehung zum Menschen: Merrick nimmt sich die Freiheit der Abkehr, der
Privatheit. Es scheint, als wolle die Pose auch das zeigen, was
dem Elephantenmann zu besitzen verwehrt war: Scham
© Gunnar Schmidt
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