Eindrücke

"Die Sonne ist bekanntlich ein wunderbarer Fotograf." Der Schriftsteller August Strindberg schreibt diesen Satz 1896, während er seine Infernokrise durchlebt, die Hölle einer Paranoia. Der Dichter ist in dieser Zeit mit naturkundlichen Studien befaßt, die seine Einsamkeit ausfüllen sollen. Er sucht nach dem unendlichen Zusammenhang in der Natur, nach der Symbiose der Erscheinungen, nach Ähnlichkeiten und Analogien. In allem soll Beziehung sein. Auf seinem Entdeckergang führen ihn seine Beobachtungen zu der Erkenntnis, daß das Sonnenlicht das Vermittelnde und Anverwandelnde in der Natur ist. In verschiedenen Naturdingen entdeckt er Lichtschriften, Licht, das von irgendwoher reflektiert und anderswo aufgezeichnet wurde: Die Blätter der Rose sind Hohlspiegel, die die gelben Strahlen auf die Staubgefäße projizieren; das Windengewächs empfängt den Eindruck des Hafers, der neben ihm steht, und ahmt ihn nach; das Cyclamenblatt erhält seine Zeichnung vom Efeu, der über ihm wächst; und die Sonnenblume vermag gar das Bild der Sonne selbst wiederzugeben mit ihrer Scheibe, mit ihren Strahlen und Flecken. Strindberg bezeichnet seine Überlegungen als wissenschaftlichen Mystizismus und doch sind ihm seine Beispiele mehr als bloße Gleichnisse: Wenn die Fische die Farben ihrer Umgebung annehmen, dann sei dieser Sachverhalt dem Umstand geschuldet, daß das Meerwasser Silberchloride enthält und derart der Fisch eine einzige Gelatineplatte darstellt.


August Strindberg: Celestograph, 1894

Alles spiegelt sich in allem: Die Dinge sind Bildgeber, bringen sie durch Projektion auf den Weg und werden dort niedergezeichnet, wo ihnen genügend Belichtungszeit zur Verfügung steht. Die Oberflächen sind Reflektoren und Einschreibemedien zugleich, Fotograf und Fotografiertes sind nicht mehr unterscheidbar.
Die Natur ist für Strindberg ein großer ikonographischer Prozeß, der der Mimesis verpflichtet ist. Er entwirft einen optischen Ökologismus, in der die Welt als Bildherstellungsmaschine und Bilderausstellung erscheint. Dieser Mystizismus ist gewiß wissenschaftliche Phantasterei; und man mag sogar die Tragik individueller Pathologie darin erblicken: Das paranoide Subjekt projiziert seine Sensibilität, Empfänglichkeit und Aufnahmebereitschaft auf die Naturdinge, die im Kern nur Metaphern der eigenen Schutzlosigkeit vor den Eindrückungsprozessen darstellen.

Gleichwohl offenbart der Strindbergsche Entwurf eine Modernität, in dem der Sinn für die Macht der Bilder, die Immaterialität des Lichts und die Übertragungen thematisiert wird. Mit einer leichten Drehung des Blickwinkels ließe sich behaupten, daß mit der Erfindung der Fotogafie, mit der mechanischen Aufzeichnung und Reproduzierbarkeit von Bildern eine technische Natur installiert wurde, in der die Dinge lediglich als optische Phänomene erscheinen. Das Licht der Welt wird in nicht endenden Prozessen gespeichert, ausgesendet, empfangen, verarbeitet, wieder gespeichert: der unbegrenzte Zusammenhang durch Lichtspielerei und Bilderfluten.

*

Fast hundert Jahre nachdem Strindberg seine Vision niedergeschrieben hat, bezieht die Hamburger Künstlergruppe Westwerk einen Raum, in dem an allen Wänden Sitzgelegenheiten und Stellmöglichkeiten für Diaprojektoren montiert sind. Die Akteure, jeder mit einem Fotoapparat bewaffnet, pflanzen sich auf die Sitze. Mit dem Licht aus den Projektoren beginnen sie Aufnahmen von dem Geschehen im Raum zu machen, von den anderen Sitzenden, von Besuchern.
Nach ein  paar  Stunden wird der Prozeß abgebrochen und die Bilder zur Entwicklung gebracht. Am folgenden Tag bilden die Aufnahmen das Material für die Projektionen: Was am Vortage festgehalten worden war, erscheint jetzt auf den Wänden und den aufgepflanzten Sitzenden als Bild. Und wieder beginnen die Teilnehmer des Experiments damit, Fotografien des Raumes anzufertigen. Auf diese Art wird das Geschehen und das bildgewordene Vortagsgeschehen fixiert: Es entsteht eine Zeitschichtung. Dieser Vorgang wird über mehrere Tage wiederholt, so daß Bilder über Bilder über Bilder erzeugt werden.

Die Analogie zur Strindbergschen Vision ist offenkundig: Ein geschlossenes raum-zeitliches System, in dem künstliche Sonnen für Belichtung sorgen, wird als Bild wahrgenommen. Ein beschleunigter, verdichteter visueller Evolutionsprozeß wird in Gang gebracht, in dem die Medien der Aufzeichnung und der Übertragung nicht die natürlichen Oberflächen der Dinge sind, sondern technische Gerätschaften. Ein virtuell unabschließbarer Verlauf zwischen Empfang von Eindrücken, Bildprozes-sualisierung, Sendung und Rücksendung wird in dieser Performance agiert. Jeder Teilnehmer ist Bildempfänger, -macher und -gemachter: ein gebrochener Spiegelungs- und Rückspiegelungsvorgang. Wofür die Natur nach Strindberg Tausende von Jahren  benötigt, das läuft mit Hilfe der fotografischen Technik im Bruchteil einer Sekunde ab.

Diese Umwelt ist nichts als ein visuelles Feld, in dem Bild und Objekt differenzlos verschmelzen. Mit jedem technischen Wimpernschlag des Verschlusses wird ein Bild auf lichtsensibler Oberfläche gespeichert, das die Unterscheidung der Materialitäten, Zeiten und der räumlichen Verteilung und Tiefe auflöst. Distanzierung von der Materialität der Dinge und die gleichzeitige Unentrinnbarkeit vor der Zirkulation oder Rückerstattung der Fremd- und Eigenbilder sind das Gesetz dieser Kunstwelt. Ausleuchtung und Kontrolle - dies ist auch eine paranoide Welt, denn in ihr gibt es kein Außen, in ihr kehrt alles wieder; eine Homöovision, in dem keine Licht- und Bildenergien verloren gehen. Der Beziehungsmodus: Ich sehe, ich werde gesehen.


© Gunnar Schmidt