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Dunkelkammer
Von dem Fotograf Jacques-Henri Lartigue wird berichtet, daß
er als Kind die Angewohnheit hatte, seine Augen bis auf einen
kleinen Schlitz zu schließen, um die Dinge, die er sah,
intensiv betrachten zu können. Anschließend drehte
er sich dreimal um die eigene Achse; er glaubte, so das Angeschaute
einzufangen und auf ewig in sich bewahren zu können.
Richard Avedon, ein anderer bedeutender Fotograf, hat die Vorgeschichte
seines Berufes ähnlich erzählt. Als Junge beobachtete
er Kinder, die in der Straße spielten, von seinem Fenster
aus. "Ich zog die Jalousien herunter," erzählt Avedon,
"machte die Lampen aus, mein Zimmer war ganz dunkel bis auf einen
kleinen Spalt der Jalousien, und durch den beobachtete ich. Mein
Zimmer war sozusagen die Camera obscura, ich war in der Kamera.
Damals hatte ich Augenzucken, eine Nervosität - ich klickte
mit den Augen, ich machte dauernd Bilder!"
Die Geschichten aus der Kindheit zweier Fotografen können
gelesen werden als neurotisch-mytische Urszenen: Die Lust an der
Aufnahme von Bildern setzt Abge-schiedenheit und Verzückung
voraus.
Jean
Rouch
Die
Erzählungen zeigen allerdings mehr als bloß individuell-psychologische
Grundgestalten, sie enthalten ein Muster, daß analytisch
einen Aspekt moderner kultureller Physiognomie zu erhellen vermag.
Eine Transferfigur ist dabei zu denken: Das fotografische Bild
hat - dies ließe sich aus dem Kinderverhalten Avedons und
Lartigues schließen - produkionstechnisch zur Voraussetzung
eine Verhaltensdisposition, die man als Neigung zur Verengung
des Blicks, Distanznahme, Verdunkelungs- und Unterbrechungslust
beschreiben kann. Das Foto trägt als unsichtbare Struktur
diese Vorgaben nicht nur in sich, es bewirkt eine Übertragung
auf den Bildkonsumenten.
Vor
allem jene öffentliche Bilderflut in Zeitungen, Journalen
und in der Werbung lebt in der Nervosität eines unaufhörlichen
Klickens, Blinzelns und Vergessens. Wir schlagen die Seite
in einer Zeitschrift um oder durcheilen mit dem Zug einen Bahnhof,
immer fliegen Bilder an uns vorüber. Wir befinden uns im
Laritgueschen Taumel der Umdrehungen, der uns von Einstellung
zu Einstellung bringt. Der endlose Rhythmus setzt zwischen die
Eindrücke die Momente der Dunkelheit, das Aussetzen der Wahrnehmung.
Hier wird eine Bildkultur installiert, in der mit der beständigen
Zunahme an visuellen Betörungen auch die Blindheit sich intensiviert.
Mit Recht ließe sich von einer Kultur der Lücke oder
des On/Off sprechen. Der Strom bildlicher Informationen setzt
sich zusammen aus intervallartigen Stößen, die wie
durch einen engen Spalt gebündelt und gefiltert auf das Auge
des Betrachters treffen. Ein Patchwork entsteht, das seine Nahtstellen
allein dem Zufall schuldet. Wir häufen einen Augenblicksreichtum
an, der in jedem Augenblick der Gleichgültigkeit verfallen
kann.
Gegen
die traditionelle Bildbetrachtung, die mit der Ruhe einen imaginären
Rapport zwischen Bild und Betrachter erzeugte, stellt sich ein
Flackern der Sinneseindrücke. Der Raum des Bildes erstirbt,
wird nicht phantasmatisch besetzt und belebt; es kommt lediglich
zu einem Abtasten der Oberfläche. Avedon, der in seiner dunklen
Kammer verharrt und das Geschehen passieren sieht, offenbart einen
Grundzug moderner kultureller Wahrnehmungsweisen: Vom Licht der
Bilder
© Gunnar Schmidt
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