Bild|Wissen


Im Jahre 1907 schreibt der Philosoph Edmund Husserl einen Brief an den Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal. Der Brief des Phänomenologen enthält eine Art Verwandschaftsbegründung mit dem Ästheten. Husserl begreift den Künstler und den Philosophen als Wesen, die trotz unterschiedlicher Zielsetzungen - der eine sucht in den Dingen Erkenntnisse, der andere macht aus den Gebilden und Materialien Gestaltungen - an einem gemeinsamen Ort stehen: Sie sind beide Schauende, Außenstehende vor den Phänomenen.

Die Distanz, die der Philosoph den Weltsachen gegenüber einfordert, prägt auch seine Auffassung vom Kunstwerk. Er bestimmt die Anschauung eines rein ästhetischen Gebildes dahingehend, daß in ihr jede "existenziale Stellungnahme des Intellects und jede Stellungnahme des Gefühls und Willens” ausgeschaltet bleiben. Der Standpunkt zwischen dem Ästhetischem und Existenzialem unterliegt dabei nicht allein der freien Entscheidung des Rezipienten, er wird von den Gegenständen eingefordert: Sie zwingen ihn gleichsam, sie entweder als schön oder häßlich anzusehen, oder sie mit Freude, daß sie sind, mit Trauer, daß sie nicht sind, mit dem Wunsch, daß sie sein mögen, zu rezipieren. Husserl nennt diese letzte Möglichkeit die "existenziale Stellungnahme des Gemüts”. Die Unterscheidung will nicht besagen, daß die Gegenstände stets als reine Vertreter der Kategorien auftreten; der Regelfall ist, daß sie sich auf einer Skala zwischen den Polen des Ästhetischen und Existenzialen verteilen. Husserl gibt seinem Leser Hofmannsthal als Beispiel allerdings keine Mischsache an, sondern erwähnt allein die Fotografie, die seiner Ansicht nach im Bereich der Künste die größte Ferne zum Ästhetischen einnimmt. "Je mehr von der existenzialen Welt anklingt oder lebendig herangezogen wird, je mehr an existenzialer Stellungnahme das Kunstwerk von sich anfordert (etwa gar als naturalistischer Sinnenschein: Naturwahrheit der Photographie), um so weniger ist das Werk ästhetisch rein."

Es gibt eine Form der Fotografie, die der Husserlschen Auffassung ganz und gar Recht zu geben scheint, eine Fotografie, die vollständig im Dienst einer Realitätserfassung steht: meteorologische Satelitenfotografie, Aufklärungsfoto-grafie, Zielbildfotografie, Mikrofotografie. Die Bilder dienen dazu, nachträglich etwas in den Blick zu bekommen, das das bloße Auge zu gewahren nicht in der Lage ist. Sachverhalte, die zu klein sind, zu unübersichtlich oder zu schnell, werden bildhaft erfaßt: Erkundung der Realitätsverstecke.
Gemeinsam ist diesen verschiedenen fotografischen Genres, daß eine Apparatelogik die Bildgenerierung lenkt. Es werden Apparate in die Welt gebracht, die oftmals subjektlos die Arbeit der Wirklichkeitsabtastung verrichten, d.h. ihnen ist nicht immer ein Fotograf zugestellt, der durch den Sucher Motive ausfindig macht oder der sie arrangiert; sie sind Prothesen für die blinden Entdecker. Daher gibt es auch nicht den richtigen Augenblick, nicht den Entschluß zur Aufnahme. Impulse, maschinierte Zeittakte geben den Aufnahmemoment an. Es herrscht in diesen Bildern kein Wille zur Form, kein Gefühlsantrag, sie artikulieren keinen ästhetischen Kommentar zu Realitäts- oder Kunstgegenständen, sie stellen keine wahrnehmungs-psychologischen Experimente dar. Sie dienen als Detektive, als Beweis, Beleg, sind Weltrepräsentanzen. Die Bilder stellen unwillkürliche Notate kontingenter Weltzustände dar. Unendliche Mengen dieser Bilder werden hergestellt, um Wissen darüber zu produzieren, was der Fall ist, um zu prognostizieren, um Entscheidungen zu fällen, um Politik zu machen. Arme Bilder, die in den sklavischen Dienst zweckrationalen Kalküls und pragmatischen Tuns genommen werden.

Solche Bildwerke gewinnen ihre Funktion in einem sehr engen Verwendungsbereich, sie werden in der Regel von einem spezifischen Fachpublikum benutzt. Besonders in den militärischen Institutionen gibt es ganze Abteilungen, die allein mit der Ausdeutung des einströmenden Materials befaßt sind. Es bedarf eines je besonderen Codes, um die Bilder interpretieren zu können. Oftmals werden dazu Hilfszeichen in die Fotografien eingetragen: Zahlen, Meßlinien, Umrisse, Uhr- und Tageszeiten, Diagramme, Piktogramme, Rasterlinien, Texte. Die Realität im Bild offenbart sich nicht durch eine selbstverständliche Anschauung, sie muß durch eine Lektüre bewerkstelligt werden. Die Bildzeichen werden geordnet, hierarchisiert, mit einem Ereignis verknüpft und schließlich mit einer Bedeutung versehen.

Was wären aber die Aufnahmen aus großer Höhe vor und nach einem Bombenabwurf auf eine Landschaft für jemanden, der keinen Zugang zum geologischen, technischen, optischen, strategischen und historischen Wissen hat? Er würde nichts als zwei Bilder mit verschiedenen Grauwerten und abstrakten Mustern erkennen. Man könnte behaupten, daß dieses unwissende Schauen die Grund-erfahrung eines ästhetischen Erlebenes darstellt. Realität ist immer eine Form des Wissens, in dem die Bilder unter Ähnlichkeitsmaßnahmen geordnet werden. Ästhetisches Erleben hingegen tritt auf in einem Moment, wo das Wissen ausbleibt, wo eine Lücke, eine Wunde im Code sich bemerkbar macht. Die Bilder verweigern sich, sind keiner Lektüre zugänglich, d.h. - im husserlschen Sinne - sie bringen die existenziale Stellungnahme zum Schweigen. Nun erst werden sie der Anschauung preisgegeben, eine Anschauung, die noch nicht über Wörter zur Einordnung verfügt. Der ästhetisierte Blick kennt die Zwecke nicht, nicht die Intentionen, nicht die Erkenntniswirkungen.


Zielfoto

Es ergibt sich das Paradox, daß gerade die subjektlosen Maschinenbilder, die doch ganz und gar zu Zwecken der Wirklichkeitsdefinition bestimmt sind, sehr leicht in die Sphäre des Ästhetischen überzutreten vermögen. In dem Augenblick nämlich, wo sie die Orte des Fachpublikums verlassen, verfällt auch das Wissen, das sie existenzial einbindet. Sie nehmen dann den Charakter reiner Erscheinungen an, bis hin zur dinglosen Abstraktion. Da die Bilder extreme Blicke präsentieren, brechen sie mit dem natürlichen, auf Alltagserfahrungen basierenden Wissen. Sie verlieren die Realität, die in ihnen abgelegt ist. Das Zielfoto eines Pferderennens beweist nicht zuerst Sieg und Niederlage, und kein Laie vermöchte die Zeitdifferenz zwischen den einlaufenden Teilnehmer dem Bild abzulesen. Vielmehr sehen wir in dem Bild etwas, das es zu einem Sinnbild macht: für Geschwindigkeit und Aktion. Die unnatürlich in die Länge gestreckten Pferdeleiber und die durch die Kamerabewegung verwischte Rennbahn geben in ihrer Verfremdung eine ästhetische Veranschaulichung situativer Dramatik und Hektik. Die bildgefrorenen Reiter und Pferde interessieren uns nicht als Abzug einer konkreten Wettkampf-situation, sie stehen ein als Ausdruck für Kraft und Ungestüm. Das Bild gewinnt eine Bedeutung, die über den Moment der Erfassung hinausgeht. Das Foto ist nicht länger Dokument, "naturalistischer Sinnenschein”, es nimmt die Freiheit konnotativen Ausdrucks an.

Unmittelbar augenfällig wird der Umstieg von der denotativen Bildaussage zum Ausdruck in solchen Fotografien, wo der Dingschein sich vollständig auflöst und wir lediglich Strukturen, Abstraktionen, Farb- oder Grauwertspiele gewahren. Solche unwillkürlichen Fotographiken, die aus einer Entfremdung bzw. Verfremdung erstehen, aus einer technisch vermittelten Abkehr vom anthropozentrischen Blick, stehen in der Spannung zwischen Ornament und Symbol: Sehe ich in dem Bild ein abstraktes Muster oder erkenne ich eine Dingähnlichkeit. Das Foto erlangt seine ästhetische Qualität dadurch, daß es seine Abhängigkeit vom abgebildeten Objekt aufgibt und zum Assoziationsgeber für den Betrachter wird. Das Ästhetische kann bei diesen Varianten der Fotografie nicht aufgefaßt werden als sinnlich-formaler Schein, den ein Künstler einsetzt, um bestimmte Effekte beim Betrachter zu erzielen, sondern als Schwebezustand des Bildobjekts, das sich vereindeutigenden Aussagen gegenüber immun zeigt. Auch wenn unzweifelhaft menschliche Entschlußkraft nötig war, die Bildapparate auf die Weltdinge anzusetzten, so kann dennoch nicht von künstlerischer Intention die Rede sein. Die Apparaturen, die jenseits humaner Erfahrbarkeit Bilder produzieren, erstellen eine eigene visuelle Sphäre, deren Rückkopplung an die materiellen Weltzustände eben nur von den Spezialisten erbracht werden kann. Ohne Kenntnis der Gründe für die Herstellung, des technischen Verfahrens und der Verwendungsweise verwandelt sich das Bild in ein eigensinniges ästhetisches Zeichen und führt den unvoreingenommenen Betrachter an eine Grenze, wo er sich fragt sich, was ein Bild ist, zu dem es kein Wissen gibt. Das Bild im Schwebezustand läßt den Rezipienten schwanken, denn er merkt, wie der Wissens- oder Identifikationswunsch ans Bild greift und im nächsten Moment wieder von ihm abläßt: Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.

Die Gebrauchsfotografien weisen auf eine Ästhetik, die nicht in erster Linie von Schön-häßlich-Kategorien definiert ist, sondern erkenntnistheoretisch wirkt: Was kann über ein Bild ausgesagt werden; was begründet das Verhältnis zwischen dem Betrachter und dem Bild.
Die Fotos, die ganz und gar einer existenzialen Dienstbarkeit unterworfen sind, zeigen vielleicht genau darum das Rätsel des wissenden Sehens, weil an ihnen die Eingenommenheit als künstliche Grenze erfahrbar wird. Letzlich gilt: Ich sehe immer mehr, als ich darüber mitzuteilen weiß.


© Gunnar Schmidt