Bildermacher

Gegen den Fluß der Weltdinge, der Sprache, in dem alles dahingeht, ins Unendliche sich ausbreitet, bauen wir Bilddämme. Gegebenes, Genommenes wird stillgelegt, eingenommen, umgrenzt: Ich mache mir/habe ein Bild von Dir. So beruhigen wir uns, kommen zu Gewißheiten, schützen uns vor Überraschungen. Um die Vergänglichkeit, die Metamorphosen werden Rahmen geschlagen, die Übersicht garantieren, das Rauschen aussperren sollen - Endlichkeit: And our Faces, my Heart, Brief as Photos (John Berger).
Dabei begnügt sich die imaginäre Besitznahme nicht in jedem Fall damit, eine unsichtbare Statue in der Krypta des Gedächtnisses aufzustellen; das innere Bild benötigt Außenstützpunkte, materielle Vergewisserung. Wir trauen unseren inneren Behältern nicht, wo die Objekte zu verblassen, verfallen, im Schutt unterzugehen drohen.

Die Fotografie kann die ikonische Sicherung im Außen übernehmen, wenn sie der Vorstellung vom eingelagerten Bild gehorcht: gefügiges Bild.


In einem Brief aus dem Jahre 1907 schreibt C.G. Jung an Freud, den hochverehrten Professor: "Vielleicht darf ich bei dieser Gelegenheit einen längst gehegten und immer wieder verdrängten Wunsch anbringen: Ich möchte nämlich gerne eine Photographie besitzen, aber so, wie ich Sie kennengelernt habe, und nicht, wie Sie früher aussahen. [...] Würden Sie die große Güte haben und mir vielleicht gelegentlich einmal diesen Wunsch erfüllen? Ich wäre Ihnen dafür zum größten Dank verpflichtet, denn ich ermangle von Zeit zu Zeit immer wieder Ihr Bild."

Brüder mit Vater


Was zu entgleiten droht oder aus der Ferne scheint, soll aufgenommen werden. Das stille Porträt, das Jung begehrt, scheint sich für ihn allegorisch verdichtet zu haben zu einem Bild der Begegnung, des Kennenlernens.

Die Allegorisierung ist etwas anderes als Erinnerungsarbeit, die das Vergangene erzählerisch zu bewältigen hätte. Das ersehnte Bild soll - in Momenten des Mangels - Rückruf einer Szene, eines Gesichts sein, soll ein Gefühl wachrufen. Das imaginäre Verlangen schweißt die Bildperson, die innere Vorstellung und die Realperson zu einem Komplex zusammen. Die konservierte Zeit im Bild wird ihrer Konkretheit beraubt, um den anderen illusionistisch einzuformen: Ich sehe dich, wie ich mir wünsche, dich zu sehen. Nicht irgendeine Fotografie sollst du mir schicken, sondern ein Bild, das meinem Eindruck von Dir nachgezeichnet ist.

Jung möchte das Foto nicht als mehr oder weniger zufälliges Dokument eines Zeitpunktes anschauen, sondern zum Sinnbild einer Urszene machen, in der Rollen oder Empfindungen verteilt wurden.

Das Bild übernimmt die Funktion einer Identifikation oder Festfügung. Gewiß ist bei Jung Verehrung das Motiv des Bildwunsches; und vielleicht möchte er aus diesem Grunde die Vaterfigur Freud festhalten, im Lichte seines imaginären Entwurfs verewigen. Das Begehren nach Nähe vermischt sich mit der Sehnsucht nach Vereinnahmung.

Der Angesprochene, Sigmund Freud, läßt seinem Briefpartner eine unsentimentale Antwort zukommen, in der ein anderes Bildmodell zur Sprache kommt: "Ich habe seit 15 Jahren keinem Photographen mit Willen gesessen, weil ich so eitel bin, daß ich die körperliche Dekadenz schlecht vertrage. Vor zwei Jahren mußte ich mich für die Hygienische Ausstellung (verordnungsgemäß) photographieren lassen, verabscheue aber das Bild so sehr, daß ich nichts dafür tun will, daß es in Ihren Besitz gelange. Meine Buben haben etwa gleichzeitig ein Bild von mir gemacht, daß ganz ungekünstelt und viel besser ist."

Für Freud ist das fotografische Bild zunächst nichts als eine Zeitregistratur, in der der Abgebildete immer schon einer Vergangenheit zugehört. Es stellt das Gezeigte in den Vergleich mit dem Davor und Danach. Mit der Vergleichsmöglichkeit gibt es kein Entrinnen vor der Vergänglichkeit, die sich unwillkürlich zur Ansicht meldet. Freud bleiben die Möglichkeiten des Ausdrucks, um den Spuren der Zeit weichzeichnend zu begegnen: ungekünstelt möge das Bild erscheinen. Dem fast sehnsüchtigen Anliegen des Jüngeren begegnet Freud mit einer fast kalten, widerwilligen Haltung. Jede Fotografie ist ihm immer schon Verlust, zeigt die Person nicht als seiende, sondern als gewesene. Jung scheint das Bild als Halt anzuschauen, während es für Freud Anlaß ist, Abschied nehmen zu müssen: Wo Ich war...

Welcher Widersinn: Dem einen bietet das Foto Gelegenheit, die Zeit anzuhalten, ins Phantasma des fixierten Seins sich einzufinden; dem anderen ist es unbarmherziges Signal der Vergänglichkeit.

Jung ist ein Liebender, schwärmerischer Anhänger Freuds. Der Liebende verlangt nach Bildern, die ihm Gewißheit über das geliebte Objekt geben. Freud hingegen sieht das Bild als Abzug einer kleinen Wirklichkeit ohne - in psychoanalytischer Terminologie - libidinöse Besetzung. Er ist ein abgeklärter Realist, hat keinen Verliebtheitsanspruch ans Bild. Dies mag erlären, warum Freud nur beiläufig ebenfalls eine Fotografie von seinem Korrespondenzpartner erbittet. Jung kündigt denn auch mit Schamhaftigkeit eine Übermittlung an: "Ich werde Ihnen sofort auch mein Konterfei schicken, obschon mir eine solche Handlung fast lächerlich erscheint." Der Sohn spürt wohl, daß er weniger ist als der geliebte Vater. Bildwürdigkeit stellt sich erst in der liebenden Erhöhung ein.
Ähnlich zurückhalten hat auch ein anderer Sohn, Sándor Ferenczi, reagiert. "Ihr Porträt gefällt mir gut" schreibt er nach Erhalt einer Fotografie. "Ich danke Ihnen für dieses Geschenk. Leider kann ich es nicht erwidern. Sie haben mich aber auf dem Gruppenbild."

Ferenczi vermeidet eine Erklärung, warum ihm eine Erwiderung des Geschenks nicht möglich erscheint. Er, der in seinen Briefen an Freud sich selbst mehrfach einen Bruderkomplex diagnostiziert, begnügt sich damit, im Kreise der psychoanalytischen Brüder auf einer Fotografie sich repräsentiert zu finden. Seine Neurose - vielleicht nur eine Abart der Verliebtheit - duldet nur das Korrespondenzbild zum imaginären Vorstellungsbild.

Die Liebenden sind diejenigen, die sich in ein Bild vergaffen oder es erschaffen und die Geschichte vergessen (möchten). Die Verehrung, Vergötterung bilden, festigen den Geliebten, geben ihm statuarische Kontur. Die Unterwerfung unter das Bild ist dialektisch, denn sie geht einher mit einer geheimen Herrschaftsgeste, die das geliebte Objekt ins Schema der Einbildung fassen möchte. Eine augenblickshafte Erfahrung, ein Moment des Begehrens dringt darauf, Einhalt zu finden, Zukunft und Vergangenheit aus dem Jetzt der Wahrnehmung auszuschließen. Der Blickkontakt mit einem Foto kann die Illusion des Festhaltens stützen, der Unveränderbarkeit. Möglicherweise ist die Verliebtheit die Sehnsucht nach einem Urbild, wo Ich und anderer ihre gesicherten Orte haben: Du bist mein...

Ich sehe, ich möchte sehen. Das fotografische Bild kann im doppelten Register der Wirklichkeitsnachbildung und inszenatorischer -verzerrung wahrgenommen werden. Das narzißtisch besetzte Bild ist immer dem Trug nahe, der den Horizont des Realen abdecken muß. Von dort kommen Störgeräusche: Das Rauschen der Zeit lenkt den Blick ab vom Bild. Im Blickwechsel lernt Ich das Mehr-Sehen.



© Gunnar Schmidt