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Beschreibungen
Ein Buch stellt vor die Schrift das Bild, die Betrachtung vor
das Lesen. Noch bevor der Parcours der Buchstaben vom Leser abgeschritten
ist, schaut er durch ein Fenster in die Welt.
In
einem Band aus dem Jahre 1913 mit Erzählungen des englischen
Schriftstellers Thomas Hardy befindet sich eine Frontispiz-Fotografie
mit einer sanfthügelige Landschaft ohne Weg und Leben. Von
einer Erhöhung aus zieht der Blick über die Hügel
ins Nichts des fernen Horizonts: Wir werden zu Fern-Sehern. Der
Herausgeber hat ein merkwürdig leeres Bild dem Text vorangestellt,
eines, das durch die Abwesenheit auffälliger Details ausgezeichnet
ist: geöffneter Raum, offenes Bild. Nur ein bescheidenes
Zäunchen läuft durch den Vordergrund, eine schüchterne
Andeutung, daß es in dieser Weite einmal die Berührung
mit menschlichem Werk gab.
English Illustrated Magazine, 1893
Sonderbar
ist die Bildlegende, die die Wucht kultureller Herrlichkeit behauptet:
The Castle of Mai-Dun. Nichts von der Würde und Mächtigkeit
eines Schlosses oder einer Burg ist auf dem Bild zu entdecken,
nicht einmal ruinenhafte Reste vergangener Größe. Ist
der Riß zwischen Text und Foto der Nachlässigkeit des
Herausgebers geschuldet, ein undurchschauter Verführungstrick,
eine unverstandene Anspielung?
Die Konvention, die die Bildunterschrift als Kommentar des Bildinhalts
setzt, scheint aufgehoben zugunsten eines (vielleicht nur scheinbaren)
Widersinns. Solcher Widersinn regt an, auf die Suche zu gehen
nach Verknüpfungen, Andeutungen, Hinweisen, die ihn aufzulösen
vermögen.
Literatur
ist eine schöne Lügnerin, Welterfinderin. Sie braucht
sich nicht zu scheren um die Wirklichkeit. Ganz anders die Fotografie,
die mit dem Gegebenen verkettet ist; sie benötigt das Licht
der Dinge. Wird sie jedoch in den literarischen Kontext gestellt,
kommt ein Spiel in Gang zwischen dem Dokumentarischen und Fiktionalen,
dem visuellen und dem imaginären Vorstellungsbild.
Im
Kontext der Hardyschen Literatur läßt die Fotografie
etwas von ihrem Wesen, Dokument eines definiten Ortes und eines
kurzen Augenblicks zu sein. Das geographische Setting in allen
Romanen und Erzählungen Thomas Hardys ist Wessex, jene weiche,
von Hügeln und Tälern durchzogene Landschaft im Südwesten
Englands. Das Frontispiz zeigt einen Blick auf diesen Landstrich.
Der Leser des Buches gewinnt über die Betrachtung einen ersten,
unmittelbaren Einblick in den Lebensraum der literarischen Figuren.
Doch setzt bereits damit die Metamorphose des Dokuments ein: Als
Bucheröffnung erfüllt der Ausschnitt eine emblemathafte
Funktion, steht ein als pars pro toto dieser Landschaft.
Er wird besetzt als verallgemeinerbarer Eindruck. Die Aufnahme
steht dem Leser zur Verfügung für die Ausstattung seines
inneren Films, der während der Lektüre auf der geistigen
Projektionsfläche ablaufen wird. Dabei ist es gerade die
Detailabwesenheit, die fast abstrakte Qualität, gleichsam
die Ausstattungsarmut, die zu einer imaginären Ausmalung
der Szenerie einlädt. "I never pass through Calk-Newton without
turning to regard the neighbouring upland, at a point where a
lane crosses the lone straight highway dividing this for the next
parish ..." So beginnt eine Geschichte, die die Landschaft
in wenigen Worten mit Städtchen, Straße, Weg und Mensch
bereichert.
Die
universelle Verwendbarkeit des Bildes als Hintergrund für
die verschiedenen Geschichten hat jedoch nur so lange Bestand,
wie der Einspruch des Bildtitels unberücksichtigt bleibt.
In der Erzählung "A Tryst at an Ancient Earthwork" wird
ihm Rechnung getragen, verknüpft sich der Textfaden mit der
rätselhaften Bildunterschrift. (Hier
ist anzufügen, dass die Erzählung 1893 in einer Variante
unter dem Titel "Ancient Earthworks at Casterbridge"
im English Illustrated Magazine erschienen war und von vier
Fotografien illustriert wurde.)
Der Erzähler führt uns auf eine Wanderung zu nächtlicher
Zeit. Es geht um eine geheime Verabredung zweier Männer.
Ihr Treffpunkt ist die Ruine von Mai-Dun, "The Castle of the Great
Hill". Nach Art einer filmischen Kamerafahrt nähert
sich die erzählende Hauptfigur langsam der Burg und entwirft
in verschiedenen Ansichten ein Bild der mächtigen Architektur:
Wird sie aus der Ferne noch gesehen wie das scharf geschnittene
Profil einer marmornen Intarsia, erwacht die Festung aus der Nähe
zu bedrohlichem Leben.
Der Erzähltext beschreibt den Gegenstand, die von der Legende
behauptete aber bildabwesende Sache - und er beschreibt damit
gleichzeitig unsere Vorstellungswelt. Durch die Nachträglichkeit
der Geschichte entsteht ein überraschendes Verweismuster
zwischen Bild und Erzähl- und Legendetext, eine Überlagerung
von Sichtbarkeit und Lesbarkeit, von visueller Leere und vorstellungsreicher
Fülle. Die zwei Ordnungen der Bilder überlagern sich,
projizieren sich ineinander: ... ich sehe, ich lese, ich stelle
mir vor.
Solch
phantasierendes Tun, das sich zwischen Fotografie und Geschichte
entzündet, kann sich wiedererkennen in der Figur des Erzählers.
Auch er bevölkert einen realen (Leer-)Platz mit inneren Gestalten:
In der nächtlichen, verlassenen Ruine imaginiert er Stimmen,
die das Gebäude vor Jahrhunderten belebten, Musik, die eine
Feierlichkeit untermalte, Männer, die am Morgen die Festung
verließen, um eine Schlacht zu bestehen.
Das Buch thematisiert, was es gleichzeitig inszeniert: Durch das
Fragment, den freien Platz, das Unbelebte und Ungereimte wird
der Wahrnehmende angeregt, Vollkommenheit zu stiften, Seele einzuhauchen.
Das
Spiel mit Abwesenheit und Anwesenheit zwischen Text und Bild führt
im Verlauf der Lektüre zu einer weiteren Variation, zu einem
Objektwechsel. Die Ruine ist dem Erzähler nämlich nicht
nur Anschauungsobjekt, sie ist auch Stand- und Sehort sowie Ort
einer Blickidentifikation.
Der Erzähler dringt in die Festung ein. Was zu nah ist, kann
nicht mehr überblickt werden, und so wendet er die Perspektive:
"I reached the central mound or platform - the crown and axis
of the whole structure. The view from here by day must be of almost
limitless extent. [...] Many a time must the king or leader have
directed his keen eyes hence across the open lands ..."
Diese Sätze lenken die Aufmerksamkeit ab von dem Dargestellten
hin zur Darstellung. Wir sehen nicht einfach ein kleines Stück
Welt, wir sollen das Sehen eines imaginären anderen sehen.
Der Titel "The Castle of Mai-Dun" bezeichnet kein Objekt, sondern
einen Aussichtspunkt. Der literarisch evozierte Herrscher, dem
der Horizont offen steht, der erhoben über das Land schaut,
wird zum unsichtbaren Zentrum des Bildes. Der Leser/Bildbetrachter
erfährt eine Einverwandlung in die Blickhaltung desjenigen,
der die Macht hat: Darauf-Sicht, Weit-Sicht. Die Szene ist nicht
länger Schauplatz sich erfüllender Geschichten. Für
die Länge von wenigen Sätzen realisiert das Foto den
geöffneten Raum, der sich uns widerstandslos zu offenbaren
scheint. Der Fotograf mag den Text als Aufforderung verstanden
haben, die Perspektive des Königs nachzustellen; doch erst
die Lektüre der Sätze bewirkt die identifikatorische
Übertragung der "scharfen Augen" auf den Leser/Betrachter.
Diese
literarisch angediente Herrschaftsposition ist mehr als ein visuelles
Lenkmanöver, das die Rezeption des Bildes prägt. Sie
läßt gewahr werden, daß Lesen und Betrachten
immer auch den Aspekt der Machtausübung in sich tragen. Wir
glauben, Über-Blick zu haben. Eine Kunstwelt entfaltet sich
vor unseren Augen, die in der Endlichkeit von Anfang und Ende,
in der Rahmung verfügbar erscheint. Die Text- und Bildzeichen
- trotz ihrer Verführkraft - sind wehrlos gegenüber
unseren Deutungs-, Auschmückungs-, Hervorhebungs- und Abschattungsbedürfnissen.
"Wenn
man durch den Sucher blickt," hat Henri Cartier-Bresson einmal
gesagt, "was immer man sieht, man sieht es nackt." Hingegen
ein Bild zu betrachten, schließt immer die Beschreibung ein, ist ein Akt der Bekleidung.
©
Gunnar Schmidt |

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