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Bildberührung
Mit jedem Wimpernschlag scheint es, als öffneten wir eine
neue Seite in einem Bilderbuch von panoramahaften Ausmaßen.
Die Welt ist ein beständig sich offenbarender Darstellungsprozeß. Ich sehe heißt: Ich taste mit dem Blick eine Oberfläche
ab, die sich ohne Widerständigkeit vor mir entrollt. Dabei
braucht der Schauende das Wünschen nicht, denn er lebt selbstverständlich
in den Bildern, träge, empfangend. Doch was ist das Sehen
ohne Wunsch? Kaum mehr als ein gedankenloser Flug über die
Erscheinungen hinweg. Die Dinge sind ihm alle gleich gültig.
Aber geschieht es nicht hin und wieder, daß wir innehalten,
weil wir den Blick nicht abwenden können und dabei jede Übersicht
verlieren? Eine Sache, ein Schatten, Lichterflirren in einem Geäst,
ein Gesicht, eine Geste, eine Farbe hält uns fest. Zeitverloren
- für einen Augenblick - heftet sich der Blick an ein Detail
und der Schauende weiß nicht zu sagen, warum genau dieses
in der unendlichen Menge ihn aufmerken läßt. Ein unsichtbares
Mehr scheint ihm eigen zu sein oder ein unerklärlich erotischer
Antrag von ihm auszugehen. Der Blick heftet sich an etwas, das
dem Schauenden auf unheimliche Art bekannt vorkommen mag. Diese
Erfahrung öffnet für die Vermutung, daß in jedem
Schauen ein Begehrlichkeitskern enthalten ist, der das Sehen der
Orientierung, der Wirklichkeitssicherung, der Alltagsprüfung
dann und wann durchstößt. Frei von Zwecken ist der
Blick auf der Suche - ohne es zu wissen - nach etwas Verlorenem,
einem Ding, mit dem sich - ja, was? - eine Empfindung, Seinsgewißheit,
Lust, Verwunderung verbunden hat? Warum sollte man nicht glauben,
daß die Begegnungsmomente, dieses plötzliche Aufbrechen
einer unnennbaren Tiefe, Wiedererweckungen sind. Wie von fern
strahlt aus dem faszinierenden Ding ein Schein, der einer angemahnten
Erinnerung gleichkommt, die nicht mehr zugänglich ist.
Vielleicht ist jeder Wunsch nach dem Bild, der immer auch ein
Wunsch nach Feststellung ist, motiviert durch die Sehnsucht nach
einem mythischen Augenblick, in dem etwas wiedergewonnen und die
Illusion des Festhaltens genährt wird. Der Bildermacher wie
der Bilderkonsument werden von einer Komposition zur nächsten,
von Motiv zu Motiv schreiten, solange sie nicht auf diesen Fleck
treffen, der von unwiderstehlicher Anziehungskraft ist. Der Blick
streift über die Erscheinungen und wartet auf das Zusammentreffen.
*
Auf
der Suche nach Spuren eines Begehrens finde ich eine Fotografie
des Bildjournalisten Erich Salomon. Auf ihr sehe ich eine junge
Frau vor einem Spiegel, die sie sich ihre Haare richtet. Es ist
ein Bild voller Rahmen: Spiegelrahmen, Bilderrahmen, Türrahmen
und ein Stück Schrank, das ebenfalls wie ein Rahmenteil den
linken Bildrand begrenzt. Ein enger, privater Raum, eine private
Geste.
Die Bildlegende, die Salomon diesem Foto beigegeben hat, ist erstaunlich: Eine Mitarbeiterin des Wahlkampfbüros von Senator Joseph
P. Bloom, USA 1932. Der Fotograf folgt allem Anschein nach
ganz seinem journalistischen Auftrag und bezeichnet Ort
und Zeit und Umstände und Person. Er öffnet gleichsam
die Tür und widmet sich in der Legende dem Wirklichkeitskontext;
er informiert den Betrachter des Bildes, der es als Ausdruck eines
bestimmten historischen und lokalen Geschehens verstehen kann.
Erstaunlich ist diese Unterschrift deshalb, weil in dem Bild nichts,
keine Spur von dieser benannten Wirklichkeit zu sehen ist.
Der Kommentar steht in vollkommenem Gegensatz zur Privatheit des
Bildinhalts. Wir sehen keine große Politik, keinen Wahlkampf,
keine Amerikazeichen - wir sehen eine junge Frau, die sich zufrieden
in einem Spiegel betrachtet. Die Vermutung drängt sich auf,
daß die Bildunterschrift ablenken, den Schauenden auf eine
falsche Fährte bringen soll.
Was immer Salomon bewogen hat, diesen Augenblick, diesen Raum,
diese Geste zu fotografieren, es scheint unabweisbar, daß
ein bestimmtes Detail das Blickzentrum des Bildes einnimmt: die
Hände. Sie sind das, was dem Betrachter am nächsten
ist; sie stellen den Aktionsmittelpunkt dar. Das Foto macht aus
den Händen ein Porträt. Die Hände bilden eine Szene
- Moment in einer Bewegung -, was ihren symbolisch-emotiven Mehrwert
ausmacht; sie besitzen etwas, das man als mikrodramatische Eigenschaft
des Details bezeichnen könnte.
Salomons Bild zeigt die Hand des Feingriffs, der Selbstsorge.
Fast könnte man glauben, die Frau posiere für die Kamera
- die gehobenen Arme hinter dem Kopf verschränkt und ein
Lächeln auf dem Gesicht -, wären die Hände nicht
mit diesem kleinen Akt des Kämmens befaßt. Sie befassen
vorsichtig das Haar, der abgespreizte kleine Finger ruht gelassen,
die rechte Hand streicht noch einmal die Strähne nach, die
so eben der Kamm zur Fasson gebracht hat. Die Hände der jungen
Frau werden bei Salomon zu Protagonisten, die in ihrem still-dramatischen
Eigenleben die historische Wirklichkeitserfassung des Bildjournalismus
vergessen lassen.
Die Szene ließe sich als Reflex einer ikonographischen Tradition
begreifen, in der Hände seit jeher eine besondere Bedeutung
haben: ihre Haltung, ihr Schmuck, die Art, wie sie die Dinge berühren
oder greifen erzählen als pars pro toto von der Person.
Was aber ließe sich sagen über das Wünschen, das
sich in diesem Bildfleck einen Ausdruck gegeben haben könnte?
Die Psychoanalyse des Bildes kann nicht die Rolle des allwissenden
Übersetzers spielen, doch kann sie das Augenmerk auf die
Symptomstruktur richten. Sie erkennt unter Umständen im Detail
das Insistieren, das Drängen des Wunsches, der nach einem
Partialobjekt verlangt.
Erich Salomon: Albert Einstein engaging in animated conversation with British Prime Minister Ramsay MacDonald
So begegnet man immer wieder dem Motiv der Hand in den Fotografien
Salomons: die nachdenkliche Hand am Kinn oder die aufgeregt gespreizte
Hand bei dem Zuschauer eines Footballspiel, die wartende Hand
eines Masseurs, die zusammengefalteten stummen Hände von
Schiffsarbeitern, die in der Bewegung unscharfen Hände des
cellospielenden Pablo Casals, die bandagierte Hand des Boxers
Schmeling, die ein Kind hält, die posierenden Hände
eines Vogue-Modells, die zögernde Hand eines kartenspielenden
Außenministers usf.
Das wiederkehrende Hervortreten eines Motivs kann als Versuch
verstanden werden, die Abwesenheit eines bedeutsamen Objekts symbolisch
zu bearbeiten. Die frühkindliche Erfahrung des Fort-Da der
ersten Objekte, die nicht zuletzt visuell erlebt werden, mag hier
noch Spuren hinterlassen haben, und vielleicht ist die Suche im
Bild eine Weise der Rückkehr zu einem anfänglichen Erlebnis-
und Erfahrungsgrund.
Die Fotografien Salomons, die im öffentlichen Geschehen oft
den privaten Augenblick festhalten, mögen von dem Wunsch
nach der frühen Intimität zeugen. Ist die Hand in diesem
Szenario das Zeichen eines Berührungswunsches? Man lasse
sich nicht von der Konkretheit des Objekts täuschen. Das
Faszinosum im Bild ist von anderer Ordnung, es geht um eine Reziprozität.
Der Psychoanalytiker Jacques Lacan begreift sie als Wechselwirkung
von Blicken - "auf seiten der Dinge gibt es den Blick, das heißt,
die Dinge blicken mich/gehen mich an, und ich wiederum sehe sie."
Die Handobjekte als Gesicht: Ich sehe sie an, und sie schauen
mich an - wir halten einander fest.
Das rätselhafte Begehren nach dem Bild hat wohl darin seinen
Grund, eine intensive, quasi-halluzinatorische Kommunikation wachzurufen.
Der Psychoanalytiker weißt darauf hin, daß der Mensch
in seiner Existenz entscheidend davon geprägt ist, daß
er von überall her erblickt werden kann. Daher entstammt
auch der Wunsch, in der Liebe vom geliebten Wesen den Blick zu
verlangen; es möge uns mit seinem Blick berühren. Lacan
setzt diese These auch im Feld des Bildes ein und behaupet, daß
im Bild nicht nur Gegenstände sich zeigen, sondern daß
in ihnen ein Blick enthalten ist, der auf uns fällt. Der
Blick, der uns gilt, ist das Objekt des Begehrens in der Bildpraxis.
Selbst wo das Augenpaar fehlt, kann das "Gefühl einer Gegenwart
eines Blicks" sich einstellen. In der Tat, wer kennt nicht die
Erfahrung, von einem Bild, von dem wir einen starken ästhetischen
Eindruck empfangen haben, verfolgt zu werden, so wie auch ein
Blick uns zu verfolgen vermag?
Der Fotograf, der sich dem anderen mit dem Objektiv nähert,
möchte durch das Einfangen eines solcherart uns erblickenden Details Vertrautheit ins Bild bringen, eine Vertrautheit, die
darum unheimlich wirken kann, weil die Urobjekte in der Frühgeschichte
versunken sind. Die Gesten der Hände in Salomons Fotos mögen
Anmutungszeichen sein, die längst vergessene Erfahrungen
mit der nahen Person als Empfindung wachrufen: Handberührungen,
Blickberührungen. In diesem Sinne sind sie Bilder für
das Unbewußte, Porträts des Begehrens.
©
Gunnar Schmidt
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