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Ansichten
Landschaften, Plätze, Straßen, Ecken, Höfe - die
Erfahrung an ihnen ist eine im Vorbeigehen. Passantengänge.
Wir durchqueren die Ensembles und Anlagen, zielgerichtet oder
nomadisch, müßig oder von Eile angetrieben. In der Flucht gibt es keine Orte.
Orte entstehen im Sinn. Sie sind mehr als der abmeßbare
Raum, keine Sache der Abgrenzung, der Geometrisierung. Orte lösen
sich aus der vorbeiziehenden Umgebung als Komplexe eines Sinnesreichtums. Umwelt: Der Durchgänger fühlt sich verwandelt
in einen Aufgenommen, spürt die Empfindung des Sich-eingefunden-habens.
Selbst im Schreiten setzt Verweildauer ein. Die Dinge sind nun
nicht mehr nur einfach aufgestellte oder vorgefundene Sachen;
sie fügen sich zu einem Erlebnisganzen, zu einer Atmosphäre,
einer Aura. Am Ort regiert nicht der Blick, der "die reine Feststellung
der Erscheinungen" (Starobinski) betreibt. Der Ort ist eine Angelegenheit
der Eindrücklichkeit, die Summe der fünf Sinne. Im synästhetischen
Erleben der Geräusche, Gerüche, Lichteindrücke,
Bewegungen, Formen, Gestalten bilden sich Stimmungen, Gefühlskorrespondenzen
zu den Wahrnehmungen: Freundlichkeit, Kälte, Geheimnishaftigkeit,
Friedfertigkeit, Heiterkeit, Feindseligkeit usw. Sich an einem
Ort einfinden heißt, Attraktionen oder Abstoßungen
ausgesetzt zu sein. Ist der Ort erst einmal entdeckt, bildet er
eine Zone der Erinnerung, erzeugt er Sehnsucht nach Rückkehr
oder Furcht vor einer Wiederbegegnung.

On Kawara
Die
Orterfahrungen lassen im Vorstellungsraum der Seele kleine
Weltbilder wachsen. Sie sind mehr als das Sichtbare, vielmehr
das unsagbare Ganze einer momentanen Erfahrung an einer Umwelt,
die Fülle der bewußten und unbewußten Eindrücke,
der Erregungen, die das Subjekt in sich hervorgerufen findet.
Wie zufällig kann es geschehen, daß wir von einem Ort
eingenommen werden, der ein Weltbild in uns ablegt. Doch ist es
vor allem der Reisende, der sich die Suche nach den Weltbildern
zur Aufgabe gemacht hat. Und er ist es, mehr als jeder andere,
der diese Weltbilder in Bildwelten zu übersetzen trachtet.
Besonders dort, wo die Wahrnehmungsempfindungen dicht sind, wird
die Foto- oder Videoapparatur in Anschlag gebracht in der Hoffnung,
etwas von dem Ortgefühl zu konservieren.
In der Wiederbegegnung im Bild mögen wir einen Anlaß
zur Erinnerung haben, eines Erwachens des Empfindungsgemisches.
Doch auch Enttäuschung mag sich einstellen beim Betrachten
der mitgebrachten Fotografien. Die bildhafte Wiederbegegnung ist
nüchtern, denn ein Transport der Erregung hat nicht stattgefunden;
alles sieht ein wenig ärmer, blasser, flacher aus. Das Leuchten
scheint aus den Objekten gewichen zu sein. Die Veräußerlichung
der Erlebnisse in der Fotografie gelingt allenfalls nur als schwacher
Nachhall. Der Ort, der sich aus einem Gemenge der Sinneseindrücke
zusammengesetzt hatte, wird im fotografischen Akt auf eine Standpunktwahrnehmung
reduziert; der Erfahrungsreichtum wird auf eine Ansicht zurückgeschnitten.
Die Enttäuschung basiert, so könnte man sagen, auf einer
Inkongruenz der Speicher- und Darstellungsebenen: Das Bild ist
das Datum eines Sekundenbruchteils im Feld des Visuellen und eben
nicht die Speicherung synchroner synästhetischer Empfindungen.
Das Bild speichert das optisch Zugängliche und zeigt ein
visuelles Analogon; der Körper speichert Sinneseindrücke
und kann nur davon erzählen.
Darum auch kann es nicht anders sein, daß das Zeigen eines
Fotos stets von Geschichten, Kommentaren und Erläuterungen
begleitet ist, und man spürt dabei die Anstrengung, wieder
erstehen zu lassen, was im Körper begraben liegt.
*
Die
Bildpostkarte ist das Medium, in dem sprachliche und visuelle
Botschaft sich verknüpfen, Rücken an Rücken liegen:
Bildfläche, Schriftfläche. Bildwelt und sprachlich übersetztes
Weltbild nehmen auf ihr gewissermaßen stenographisch Kontakt
auf. Die Kürzelhaftigkeit ist das formale Element, in dem
Bild und Sprache zur Angleichung gelangen: Das rasch zu konsumierende
Bild entspricht den wenigen, schnell hingeworfenen Worten. Die
Wirksamkeit der Ansichtskarte liegt in ihrer Leichtigkeit, Oberflächlichkeit.
Es schreibt jemand an einen Philosophen: "Die Postkarte zu wählen,
ist für mich eine Flucht, die, zumindest, Ihnen die allzu
abundante Literatur ersparen wird, die Sie über sich hätten
ergehen lassen müssen, wenn ich es gewagt hätte, Ihnen
zu sprechen von ..." Die Karte beschränkt von vornherein
das Überborden der Zeichen; ihre Ästhetik beläßt
alles im Kleinen, Beschnittenen. Ihre strukturelle Armut vermeidet
die Enttäuschung. Eine Ansichtskarte an einem Stand zu erwerben,
ist vielleicht ein kleines Ausweichmanöver im Strudel der
Eindrücke, ist der Versuch, das Erleben, das Bild und die
Sprache zu einem Stil zu fügen.
*
Beim
Betrachten einer alten Postkarte, auf der der Bremer Hauptbahnhof
samt Vorplatz abgebildet ist, frage ich mich, was den Fotografen
dazu bewogen hat, dieses Motiv zu wählen. Welche Käufer
mochte er für dieses Bild im Sinn gehabt haben? An dem Bild
ist nichts bemerkenswert, sie zeigt keine Architektur, die augenfällig
wäre, kein Stadtensemble, das Charakter offenbarte, keine
Atmosphäre.
Bahnhöfe sind Durchgangsmilieus, Rahmen, durch die der Reisende
treten muß, um in die Stadt zu gelangen oder um aus ihr
zu verschwinden. Bahnhöfe und ihre Umgebungen bieten sich
selten als Stellen an, die zur Orterfahrung sich verdichten. Hier
verweilt der Reisende in einer leeren Zeit - als Wartender, der
in der Abreise begriffen ist, der auf einen Zuganschluß
hofft. Am Bahnhof hören die Bilder auf, steht der Reisende
in der Erwartung auf das Kommende. In dieser blinden Zeit greift
er zum Nächstliegenden. Hier, jetzt, Noch-Anwesenheit. Nicht
die Stadtszene mit Schönheitswert, nicht die architektonische
Besonderheit (wer würde sie hier finden?) lenkt die Bildwahl.
Auf der Grenze zur Stadt, zu den Orten, in der flüchtigen
Bewegung dient das Bahnhofsbild als Vergewisserungszeichen einer
kurzen Anwesenheit. Der Reisende schreibt: "Lieber Freund, noch
in der Stadt schreibe ich Dir kurz vor meiner Abreise diese Karte
vom Bahnhof, den Du vorn sehen kannst." Oder im Zug bei der Fahrt
zum nächsten Ziel: "Meine Liebe, komme gerade aus Bremen."
In der Wartestellung zwischen dem Vergangenen und dem Kommenden
ziehen die Sinne sich zusammen und mit ihnen schrumpft das Aussagenwollen
auf das einfache Jetzt. Wir wählen die Karte en passant und
beschriften sie in den kurzen Pausen zwischen den Ereignissen,
zwischen den Orten. Postkarten werden wohl häufig in einer
Haltung ausgewählt und geschrieben, wo sie als Füllsel
fungieren - in einem Zwischenraum, in einer Zwischenzeit. Zeigen,
zu lesen geben in Andeutungen, in Bruchstücken, das Zusammenhanglose.
In solchen Augenblicken kommt die Sprache dem Bild wohl am nächsten,
im Moment des Übergangs, wo es wenig zu sagen und zu sehen
gibt. Das Bild kann daher von einer stereotypen Ästhetik
beherrscht sein, kann sogar mittels exzessiver Farbgebung von
der Wirklichkeitsillusion sich unbekümmert entfernen,
denn es soll ja nichts als eine Ansicht vermitteln, auf die sich
der Schreibende mit wenigen Worten beziehen kann. Nicht das Erlebnis
einer Wahrnehmung soll bewahrt und kommuniziert werden, sondern
eine Nachricht aus dem off der Zeit und der Orte: die Stelle
bezeichnen, wo Ich ist: "Eben hier angelangt ..."
Jeder,
der einmal Ansichtskarten beschrieben hat, kennt die immanente
Nötigung, das Geschriebene auf das Bild zu beziehen oder
das Bild nach dem Zusagenden auszuwählen. Schrift und Bild
kommentieren sich gegenseitig. "Hast Du diese Karte gesehen, das
Bild au dos de cette carte?" Wenn wir ein Bild verschicken und
ihm Worte zuschreiben, bleiben wir bei der einfachen Idee, daß
das Sichtbare und das Sagbare lediglich dazu da sind, einander
zu vergewissern. Postkartenikonographie und -schriftstellerei
entgehen der Tiefsinnigkeit durch Verknappung und Rückbezüglichkeit.
Die Ansichtskarte dient nicht der Evokation eines Ortes, offenbart
nicht den Riß zwischen Erleben und Zeigbarem. Das Kommunizieren
wendet sich ab von den/dem Komplexen hin zu einem Bemerkbarmachen.
Für einen Augenblick ist alles leicht, weil der Ort des Erlebens
die Karte ist. Am Ende sagen wir doch nur dies: "Sieh, lies, ich
war hier."
"Die
Postkarte zu wählen, ist für mich eine Flucht", hieß
es auf einer Postkarte. Auf der Flucht schwinden die Orte - und
die Erzählungen. Die Ansichtskarte ist ein Dokument der Flüchtigkeit
- zwischen dem Zeigen und dem Sagen.
Die
Zitate sind sowohl der Bremer Ansichtskarte entnommen als auch
aus: Jacques Derrida, Die Postkarte, Berlin 1982 und Sigmund
Freud/Sándor Ferenczi, Brief-wechsel I/1, Wien/Köln/Weimar
1993; andere sind frei erfunden.
©
Gunnar Schmidt
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