Abfälle

Die Fotografie ist ein Medium, das von Beginn an die Idee der Reihe oder der Serie in sich trug. Der Begrenzung durch den Ausschnitt des einzelnen Bildes begegnet man durch totalisierende Fülle einer großen Bildermenge. Ein Bild ist nicht genug, es muß ein zweites geben, ein drittes usf. Blickwechsel, Bildschuß. Die Mühelosigkeit des Auslösens erlöst von der Wahl in der Motivsuche.
Systematiker haben die immanente Drohung der Wahllosigkeit in der Bilderschwemme kritisiert und gleichzeitig nutzbar gemacht, in dem sie die fotografische Linse auf je bestimmte Objektbereiche richteten. Das dokumentarische Potential entfaltet sich in ihrer Sicht erst innerhalb einer Ordnung, eines Ordners. So wurden Wirklichkeitssegmente unter Einsatz großer Bildmengen inventarisiert und archiviert: der Zustand von Städten und Landschaften, Wetterlagen, Krankheiten, Pflanzen- und Menschengruppen, Kriegsschauplätze, Baudenkmäler etc. Das, was als bedeutungsvoll erachtet wurde, was zu einem Wissensmaterial geformt werden sollte, wurde ins Bild gebracht. In der dokumentarischen Reihe artikuliert sich der absichtsvolle Blick und der Wunsch, einen Begriff von Wirklichkeit zu bekommen. In dieser Bildpolitik wird die Kontingenz der Realität strukturiert, wodurch überhaupt erst Fassungsvermögen entsteht.

Die Bildwürdigkeit eines Gegenstandsbereichs drückt etwas vom Wertegefühl einer Kultur aus, von ihrer Erkenntnisfähigkeit - aber auch von ihren Blindheiten. Das Ausgegrenzte oder Verdrängte entsteht durch Unterbelichtung, durch eine verweigerte Repräsentation. Das Leuchten der Dinge, unabdingbare Voraussetzung in einer Kultur des Warenscheins, zieht eine Wand vor der Dunkelzone des Verworfenen.

Das Neue, das Lichte oder das Wissenswerte hinterläßt stets Abfallspuren und Ausschließungen. Zu einer Gesellschaft, die sich auf permanente Modernisierung gründet, auf erweiterte Reproduktion sowohl in der Sphäre der Waren wie des Wissens, zu einer solchen Gesellschaft gehört Destruktivität als vitaler Bestandteil. In ihr wächst der Müll und das Abgestellte bis zu einer bedrohlichen, verschlingenden Größe. Abfallberge, Butterberge, Bücherberge, berstende Archive. Es entstehen Entsorgungsprobleme. Kontamination. Trotz der Aufdringlichkeit kommt es zu dem Paradox, daß der Abfall unsichtbar bleibt, verborgen. Er ist da, doch ist er dem Blick entzogen, weil er keine Repräsentation hat.

Es scheint, als benötigten wir zur Aufklärung, zur Erkenntnis das Double, die Reproduktion des Eigentlichen. Darum stelle man sich ein Projekt vor, in dem das Wertlose und Abseitige ins Bild genommen wird, all die Dinge und Wesen, die nicht im Nutzraum menschlicher Zweckmäßigkeit ihren Platz finden oder aus ihm vertrieben wurden. Das Abgelebte noch einmal zum Scheinen bringen, ihm die Würde einer Sichtbarkeit verleihen. Dabei ginge es nicht um eine museale Rettung oder eine Aufwertung, vielmehr darum, das Verlöschen zu dokumentieren, den Vorgang der Ersetzung. Hinter der Glanzschicht steht der Tod als Bedingung - und das Bild vermag vielleicht eine Reflexion auf diese Dunkelheit zu ermöglichen.


Bernd und Hilla Becher

Bereits im 19. Jahrhundert haben Fotografen die Linse auf Dinge gerichtet, die am Rand der Vergänglichkeit standen. So konnten beispielsweise Bürger in den 70er und 80er Jahren Beiträge in einen Verein zahlen, der sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Überreste Alt-Londons fotografieren zu lassen. Heute betreiben eine derartige Recherche Hilla und Bernd Becher, die seit vielen Jahren alte Industrieanlagen ikonographisch archivieren. Große Maschinerien, die als tote Monumente in der Abseite industrieller Landschaften auf ihren Verfall warten, werden auf den Bildern der Bechers als solitäre Gestalten inszeniert. Abgeschnitten von den Energiezufuhren, entleert von Menschen, ohne Output geben sie das Bild der Vereinsamung. Monumente ohne Welt und ohne Nutzen. Die Bechers nehmen ihren Gegenständen gegenüber stets den gleichen konzentrierten registrierenden Blick ein und reihen in ihrer Bildergalerie wie dokumentierende Wissenschaftler ein Bauwerk an das andere. Sie sind Ästheten, Sammler und Typologen. Das Ehepaar Becher wie auch ihre Vorgänger sind Bewahrer, die ihren Blick auf das Sehenswerte richten, das unterzugehen droht, und heroisieren es im Bild.

Wäre aber nicht auch ein anderer Blick denkbar, einer, der die Strenge des systematisierenden Notats zugunsten einer beiläufigen Notiz aufgibt? Das kleine Ding, Weggeworfene am Wegesrand aufnehmen, dem die Spuren der Handhabung und Gewalt aufgedrückt sind: die von der Hauswand abgerissene Reklameschrift, das zerquetschte Tier auf der Straße. Solche Dinge taugen nicht für eine heroische Bewahrung, doch stehen sie ein als Zeichen einer alltäglich gewordenen Manie, die in ihrer Raserei die Dinge nicht mehr achtet.
Das Verwesende als Motiv in der Fotografie mag wohl deshalb zum Innehalten anleiten, weil es von der Melancholie des Mediums umfangen wird. Melancholisch ist die Fotografie deshalb zu nennen, weil sie bekanntlich die Zeit anhält, das Bild des Vergangenen bewahrt. In der Melancholie schwindet die Tatkraft zugunsten eines Eingedenkens, einer Versunkenheit ins Verlorene. Sie ist ein Gefühl, das die "entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben.” (Walter Benjamin) In diesem Anblick gibt es einen doppelten Wirklichkeitsverlust: Die Fotografie gibt nicht nur Zeugnis einer unwiederbringlichen Vergangenheit; die informatorische Aufhebung ist selbst eine Gewaltform, beraubt sie doch die Sache ihrer Dinglichkeit. Die Fotografie zieht den Dingen ihre Haut ab und macht sie zu Gespenstern, zu Lichterscheinungen, Masken. Ihre Kraft liegt darin, getreue Darstellung und Vernichtung in einem zu sein.

Vom Hart-Materiellen zum Weich-Symbolischen: Dieser Sublimierungsprozeß bedeutet Sinnbildung. Das Vermodernde ohne Zeichendouble ist in einer semiokratischen Welt nichts als sinnloser Hintergrund: Fäulnisgeruch, Schmutz. Erst die Bilder von den auf der Strecke gebliebenen Dingen sind Formulierungen eines Einspruchs gegen eine manische Wirklichkeitskonstruktion und gleichzeitig Reflektion auf das Medium selbst, auf ihre melancholische Struktur. Der doppelte Verlust - des Vergangenen und der Dinglichkeit -, der den Bildern eingeschrieben ist, verdichtet sich allegorisch in den vergehenden Bildobjekten. Diese Raffinierung zu Sinn in der Melancholie vermag vielleicht, dem Manischen einen Schreck zu versetzen, ihm in seiner Raserei für einen Moment Einhalt zu gebieten. Dabei wäre gerade das Unsystematische einer Bildersammlung über den Ausschuß der symbolische Gegenspruch zur Allgegenwart der Nicht(be)achtung. Das Foto erfüllt in einer solchen Kollektion dann nicht den Dienst einer Archäologie, sondern einer Ästhetik, d.h. einer Wahrnehmungslenkung: Zusammenprall mit dem Ausgestoßenen oder Verworfenen, das den Gedanken zurückwirft zu dem Augenblick, wo die Dinge uns aus den Händen oder aus dem Blick gerieten. Das Vertrauen, das man dabei in die kritische Kraft des Bildes legt, begründet sich aus der Insistenz des fotografischen Zeichens, das aus dem Moment eine Dauer macht.

Auch wenn die Rückkehr zu den abgelebten Dingen im Symbolischem ein Reinigungsakt ist, der den Verwesungsgeruch vergessen macht, so gibt dieser Glanz doch gleichzeitig die Gelegenheit, den Ekel zum Gefühl des Verlustes zu verfeinern. Mit einem Wort des Philosophen Jacques Derrida: "Photographie der Feier, die trauert.”

© Gunnar Schmidt